Vor kurzem wurde eine neue CD mit Chopins zwei Klavierkonzerten bei dem deutschen Label Profil veröffentlicht, eine Aufnahme, von der unser Mitarbeiter Alain Steffen sehr angetan war. Er hat sich anschließend mit der jungen Pianistin Ekaterina Litvintseva unterhalten.
Frau Litvintseva, Sie stammen aus Magadan, einer eher kleinen Hafenstadt im Osten Russlands. Östlicher geht es ja kaum. Wie findet man denn dort als kleines Mädchen zur klassischen Musik?
(Lacht) Die klassische Musik kam etwas später. In Magadan bin ich geboren und habe da eigentlich nur die ersten 9 Monate meines Lebens verbracht. Dann sind wir mit der Familie nach Anadyr umgezogen, und da habe ich 15 Jahre gelebt. Und in Anadyr war es so, dass es für Kinder damals nicht viele Möglichkeiten der Beschäftigung gab. Malen, tanzen, singen, Klavier spielen. Das war dann schon fast alles. Ich kam sehr früh mit Musik in Kontakt. Zuerst waren das Kinderstücke russischer Komponisten. Meine Schwester war fünf Jahre älter als ich und sie ging damals zur Musikschule und spielte Klavier. Das wollte ich natürlich dann auch machen. Da meine Eltern Geologen waren, zogen wir nach Anadyr um. Anadyr war eine etwas größere Stadt, wo es auch für uns Kinder mehr Möglichkeiten gab. Von 1994 bis 2001 ging ich dort zur Kindemusikschule, wo ich schon ein kleines Repertoire lernte. Ich hatte eine gute Lehrerein, die mich nicht mit Etuden vergraulte, sondern bei der ich schon „richtige“ Stücke spielen durfte. Mit 11 Jahren spielte ich somit schon das Klavierkonzert von Edvard Grieg.
Heißt das, dass auf Technik weniger Wert gelegt wurde?
Genau! Für meine Lehrerin war es viel wichtiger, dass ich das Gefühl für die Musik bekam. Es gab auch keine professionelle Ausrichtung. Ich durfte Klavier lernen und spielen, weil es mir Spaß machte. So gab es auch keinen Druck von außen und ich erlernte die Musik von ihrer emotionalen Seite her. Das war sehr wichtig für mich, da die Menschen am nördlichen Polarkreis sehr feinfühlig und auch sehr eng mit der Natur verbunden sind. Wir hatten zwar einen Fernseher, aber er spielte keine große Rolle in unserem alltäglichen Leben, stattdessen gab es die Tundra. mit ihrer unendlichen Weite. Somit war dieser Weg, Musik zu machen, für mich sehr natürlich.
Die Zeit, als Sie in Anadyr mit dem Musikstudium begannen, war eine Zeit des politischen Wechsels und sozialen Umbruchs. Bereits 1991 war es zum Untergang der Sowjetunion kommen. Spürten Sie damals bereits die kontinuierliche Öffnung zum Westen hin?
Nein, wir kriegten davon nicht viel mit. Die Gegend, wo wir lebten, war quasi abgeschirmt von all dem, was damals in Russland passierte. Da wir ja keine Fernseher hatten, bekamen wir kaum Informationen von dem, was in der Welt geschah. Und ich war damals auch noch viel zu jung, um überhaupt etwas mit Politik anfangen zu können. Mit neun Jahren wusste man in Anadyr nicht viel von Russland und der Welt.
Dann zogen Sie wieder um, diesmal nach Moskau.
Ja, das war 2001 und es war anfangs sehr schwer für mich. Alles was ich vorher aus Magadan und Anadyr her kannte, die Ruhe und Harmonie, die Schönheit der Landschaft, die Herzlichkeit und Offenheit der Menschen, all dies fand ich in Moskau nicht. Auch waren die Kinder musikalisch viel weiter als ich und spielten weitaus besser Klavier. Ich kam in die Klavierklasse von Irina Gabrielova an der Staatlichen Chopin-Musikhochschule, wo ich Tonleitern und Etüden lernte, also alles, was man an technischer Basis braucht. Nach und nach lernte ich dann auch die Vorzüge Moskaus erkennen und nutzen. Ich konnte ins Konzert gehen, konnte Bücher lesen, konnte ein unheimlich reiches, kulturelles Leben entdecken, das ich bis dahin ja nicht gekannt hatte. Selbst dort bekam ich vom politischen Umbruch nicht viel mit. Alles war so neu und aufregend für mich, es gab zu viele Eindrücke zu verarbeiten, als dass ich mich für Politik interessiert hätte.
Was hat Sie denn bewogen, trotzdem in den Westen zu gehen?
Ich wollte einfach mehr spielen! Moskaus Musikleben war zwar sehr reich, aber trotzdem gab es für uns jüngere Musiker nicht so viele Möglichkeiten, öffentlich aufzutreten. So konnte ich zwar recht gut Klavier spielen, hatte aber auf der Bühne sehr wenig Erfahrung. So hat mir meine Musiklehrerein in meinem letzten Studienjahr den Rat gegeben, nach Deutschland zu gehen. Ich ging nach Köln und machte dort meinen Master. Ich habe dann innerhalb von zwei Jahren mehr Konzerte gespielt als vorher in meinem ganzen Leben. Das gab mir dann auch eine unheimliche Sicherheit und ich konnte wertvolle Erfahrungen sammeln.
Wenn Sie heute auf diese russischen Jahre zurückblicken, in welchen Punkten wurde Ihre Herangehensweise an die Musik besonders geprägt?
Das Studium in Russland kann man nicht mit dem in Deutschland vergleichen. Es ist mehr direktiv und weniger persönlich. Der Lehrer vermittelt Ihnen sein Wissen, und in der Regel übernehmen Sie das, was der Lehrer Ihnen sagt. Das heißt, spielerisch reproduzieren Sie quasi den Stil Ihres Lehrers, und die Entwicklung des eigenen Stils erfolgt eher später. Vieles ist nicht belegt, und wird intuitiv eben so gemacht. Dabei legt die russische Schule einen größeren Wert auf die emotionelle Seite des Spiels, mehr als auf die analytische. Vieles versteht man intuitiv, es kommt vieles im Spiel von der Seele, und die Analyse des Werks tritt erst an die zweite Stelle.
In Deutschland ist das ganz anders. Zum ersten wird man gelernt, analytisch zu denken, also die Musik, das Werk in seiner Architektur und seinem Kompositionswerdegang zu verstehen und zu deuten. Das klingt zwar sehr einengend, ist es aber nicht. In meinen Studienjahren habe ich gemerkt, dass ich hier viel mehr Freiheiten hatte, mich selbst einzubringen und meine Interpretation in den Vordergrund zu stellen. Ich durfte einfach anders spielen, und das war für mich eine wirklich Offenbarung. Und ich habe gemerkt, wenn ich ein Werk in seiner Substanz und in seinem Kern verstehe und begreife, dann kommen die Emotionen ganz von selbst und fügen sich stimmig in ein Ganzes ein.
War es denn schwer, jetzt diese russischen Einflüsse mit denen aus der westlichen Interpretationstradition auf einen Nenner zu bringen?
Ich will das mal so sagen: Die russische Schule definiert sich ja gerade durch die emotionale Seite, die sich auf Intuition und damit verbunden, auf Spielfreude und Leidenschaft aufbaut. In Russland wurden wir gelernt, stehend zu spielen, damit sich der Arm kraftvoll anfühlt. Vieles aus der russischen Schule basiert auf diesem sehr körperlichen, kraftvollen Spiel. Das scheint einerseits verständlich, denn in Russland haben die russischen Komponisten erste Priorität. Da muss man seinen Rachmaninov, seinen Prokofiev, seinen Mussorgsky und Scriabin beherrschen. Und für all diese Komponisten braucht man einen sehr kraftvollen Anschlag. Damit funktionieren auch Beethoven, Brahms oder Chopin, aber um Bach, Mozart und andere zu spielen, reicht dieser Interpretationsstil sicherlich nicht aus. Und gerade dieses Repertoire konnte ich dann in Deutschland kennenlernen. Hier spielt man mit einer ganz anderen Klangkultur und viel feineren Phrasierungen. Ich denke, ich habe den großen Vorzug, beide Stilrichtungen zu kennen und sie auch beide einzusetzen. So kann ich beispielsweise Rachmaninov nicht nur kräftig spielen, sondern viele Noten sehr nuanciert und mit wenig Pedal wiedergeben. Und bei Beethoven darf ich dann auch mal ruhig kräftig auf die Tasten hauen (lacht).
Sie haben eben in Saarbrücken eine neue CD mit Werken von Rachmaninov eingespielt. Also doch ein Muss für jede russische Pianistin?
Ich habe bisher erst die erste Hälfte der CD mit den Salonstücken op. 10 eingespielt, die zweite Hälfte mit den Chopin-Variationen und einigen Transkriptionen nehme ich im Sommer auf. Die Salonstücke sind sind kleine Werke mit unterschiedlichem Charakter, sehr charmant. Tatsächlich ist es bereit meine zweite Rachmaninov-Aufnahme. Ich bin mit dieser Musik großgeworden und sie bedeutet mir auch sehr viel. Und, ja, von einer russischen Pianistin wird nun einmal russisches Repertoire erwartet, aber ich habe meine Interpretationen so angelegt, dass einerseits die russische Schuler mit ihrer Expressivität, anderseits die deutsche Stilrichtung mit ihrer Klarheit und ihrer Phrasierungskunst zur Geltung kommt.
Haben Sie denn nicht Angst, nur auf dieses Repertoire festgelegt zu werden?
Nein, und ich denke auch nicht, dass man hier in Klischees denken soll. Es wird ja auch nicht als Klischee angesehen, wenn Alfred Brendel Beethoven oder Pierre-Laurent Aimard Debussy spielt. Wichtig ist nur, dass man hundertprozentig hinter der Musik steht, die man spielt.
Kommen wir noch kurz zu Ihrer rezenten CD-Aufnahme, nämlich den beiden Chopin-Konzerten mit der Klassischen Philharmonie Bonn unter Heribert Beissel. Ihre Interpretationen klingen hier ungewohnt spontan, frisch und sehr leicht. Wie sind Sie an die beiden Konzerte herangegangen?
Ich kenne beide Konzerte schon sehr lange und fühlte mich jetzt auch reif dafür, sie im Konzert zu spielen und live aufzunehmen. Es war natürlich ein enormer Vorteil, dass Heribert Beissel und das Orchester bereits von einer anderen Tournee kannten, wo wir Mozart gespielt und live aufgenommen haben. Gerade bei Live-Konzerten gibt es immer ein gewisses Risiko. Doch für mich waren dies ideale Voraussetzungen. Der große Vorteil von Live-Mitschnitten ist natürlich, dass ein Konzert einfach spannender ist. Man weiß, dass man nur eine Chance hat. Aber ehrlich gesagt, für mich ist es einfacher, mich während zwei Stunden hundertprozentig zu konzentrieren als während zwei Tagen penible Aufnahmesitzungen durchzustehen. Da geht oft so viel verloren, gerade bei Konzerten, wo es auf den Dialog mit dem Dirigenten und auf das Zusammenspiel mit dem Orchester ankommt. Wie ich vorhin schon erwähnt habe, ist es sehr wichtig für mich, dass ich jede Note in einem Werk verstehe und begreife, wieso der Komponist das so oder so gemacht hat. Ich muss die Logik der Musik erkennen. Davon hängt dann alles ab. Das Wissen, aber auch die Erfahrung bringt Sicherheit, und wenn man das Werk beherrscht, dann stellen sich automatisch auch die richtigen Emotionen ein. Mit Heribert Beissel arbeite ich unheimlich gerne zusammen. Er weiß enorm viel, nimmt aber ohne Probleme auch die Interpretation des Solisten an.
Es handelt sich hier um einen Live-Mitschnitt eines Konzerts, wo Sie beide Konzerte an einem Abend spielen. Ist das nicht ein gewagtes Unterfangen? So leicht sind die Chopin-Konzerte ja auch nicht zu spielen.
Gewagt? Aber nein! (lacht) Wir hatten doch eine Pause! Ermüdend ist vor allem, wenn man sich zu sehr auf virtuose Effekte konzentriert und wenn Solist und Orchester nicht aufeinander eingespielt sind. Und unsere Interpretation war nicht auf schnelle Tempi angelegt, weil wir unbedingt Chopins Musik transparent haben wollten. Ich glaube, dass diese Konzerte nur richtig gelingen können, wenn man einen offenen, klaren Klang anstrebt. Der Rest ist Konzentration.
Die internationale Karriere. Ein Thema für Sie?
Ich gehe das sehr natürlich an. Aber ich will Konzerte spielen. Das ist eine ungeheure Inspiration für mich. Und spielen macht einfach süchtig. Im positiven Sinne. Es ist ein tolles Gefühl, auf der Bühne zu stehen und vor vielen Menschen aufzutreten. Und dann ist es eigentlich egal, wo man spielt. Ich bin noch jung und ich habe so die Möglichkeit künstlerisch zu reifen und zu wachsen. Und ich will frei entscheiden, was, wo und mit wem ich etwas machen will. Ich habe auch keinen Agenten. Da bin ich eher misstrauisch. Die Gefahr, rücksichtslos vermarktet zu werden und in einen Konkurrenzkampf hineingeworfen zu werden, ist mir dann doch zu groß. Ich bin doch kein Pferd, das ein Rennen gewinnen muss!