Maria Callas
(c) Farabola

Er verstehe nun wirklich nicht, wieso ich der Netrebko-CD ‘Verismo’ eine so negative Kritik geschrieben habe, und überhaupt sei ich unverständlich streng, wenn es um die Bewertung von Stimmen gehe, meinte unlängst ein junger Kollege. Ich fragte ihn, ob er schon jemals eine Aufnahme von Maria Callas gehört habe. Er hatte nicht und gab zu, auch die Schallplatten von Enrico Caruso, Carlo Bergonzi, Marilyn Horne (Wer ist denn das?) und anderen nicht zu kennen. Aber er wagte es, mich zu fragen, wieso ich die Netrebko nicht in den Himmel lobe. Er hat keine Ahnung von Wortfärbung, von Wort-Betonung, von Wortdramatisierung. Er hat keine Ahnung, weil er Callas nicht gehört hat, zweifellos die größte weibliche Sängerpersönlichkeit der Nachkriegsgeschichte. Sie hatte ein einmaliges, unverwechselbares Timbre, eine unvergleichliche Ausdruckskraft, ein seltenes Gestaltungsvermögen, eine wandlungsfähige Stimme und dazu, weil sie immer mit letzter Hingabe sang, stets den Funken, der übersprang und für ein Opernerlebnis allerersten Ranges sorgte und dank der Schallplatte auch weiterhin sorgt.

Diese Stimme hat mich ein Leben lang begleitet und ich benutze ihre Aufnahmen genau wie die von Caruso immer noch, um mein Gehör zu eichen. Deshalb kann ich Netrebko nicht gut finden. Pech für mich? Aber Pech hatte ich ja wegen Callas schon als Sextaner: im Musikunterricht bekam ich schlechte Noten, weil ich mit dem Musiklehrer über die Qualitäten der Callas nicht einer Meinung war (provoziert fühlte er sich auch, weil ich mein Musikheft mit einem Karajan-Foto dekoriert hatte). Der Lehrer verachtete die große Sängerin, die ich schon damals hoch verehrte. Das ist bis heute so geblieben, wobei ich durchaus weiß, dass die Stimme der Callas nicht zu allen Rollen passte, die sie gesungen hat und auch zum Schluss ihrer Karriere deutliche Abnutzungserscheinungen zeigte. Aber was sind diese Einschränkungen gegenüber allen Vorzügen, die man auflisten kann, wenn von der Callas die Rede ist?

Seit 1968 habe ich weit über 10.000 Schallplattenrezensionen geschrieben und glaube wirklich, es mir erlauben zu können, meine eigene Meinung zu haben. Auch in Sachen ‘Ring des Nibelungen’, weil ich meinen ersten ‘Ring’ mit 15 Jahren sah und hörte und seither unzählige gesehen und gehört habe. Deshalb erlaube ich mir, aus tiefer Überzeugung den Van Zweden-Ring aus Hong Kong schlecht zu finden, auch wenn viele andere Kollegen, aus welchen Gründen auch immer, sehr belobigende Worte dafür finden.

Und für angehende Musikkritiker, die Netrebko in den Himmel loben, schlage ich eine gewinnbringende Strafe vor: sie sollten dazu gezwungen werden, den ganzen Bestand an Callas- und Caruso-Aufnahmen sowie die einige anderer Sänger zu hören. Ich stelle gerne eine Liste auf.

  • Pizzicato

  • Archives