Die aus Bulgarien stammende Pianistin Dora Deliyska ist bekannt für ganz besondere  künstlerische Projekte. Das gilt auch für ihre CD 'Etudes & Preludes', über die sich Alain Steffen mit ihr unterhalten hat.

Dora Deliyska
© Martin Siebenbrunner

Auf Ihrer neuen CD ‘Etudes & Préludes’ stellen Sie Werke von Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin direkt gegenüber, indem Sie quasi zwei ganz neue Zyklen kreieren. Was war denn der Hintergedanke bei diesem Projekt?
Klare Strukturen haben mich immer sehr fasziniert. Im künstlerischen Sinne kann eine Struktur viele Bestimmungen haben; sie kann eine Dramaturgie, eine Choreografie, einen Kompositionsaufbau oder eine Regie sein. Aus pianistischer Betrachtung ist ein Klavierzyklus ein gutes Beispiel dafür, wie einzelne Stücke in einer klaren musikalischen Struktur zusammen existieren können und welche Bedeutung sie in diesen Rahmen bekommen. Dieses geschlossene System hat eigene musikalische Regeln und schafft dadurch Ruhe und Klarheit. Es ist ein eigenes Universum, in dem stark kontrastierende Stücke aufeinander wirken und sich gegenseitig beeinflussen. In einem Klavierzyklus können die Stücke nach Tonarten organisiert werden, wie zum Beispiel in J.S. Bachs Wohltemperierten Klavier oder als technisch herausfordernde Meisterwerke entstehen wie bei Chopin in seinen Etüden op. 10 und op. 25. Mit meiner neuen CD wollte ich meine eigene Struktur erschaffen, deren Rahmen dazu dient, Stücke aus mehreren Klavierzyklen auf eine neue Art und Weise zu positionieren und dadurch ihre musikalische Bedeutung neu zu interpretieren.

Wieso diese Komponisten? Es gibt ja auch noch andere, die Etüden und Präludien komponiert haben?
Bei der Auswahl der Etüden habe ich György Ligeti als Basis verwendet. Ich beschäftige mich seit mehreren Jahren mit seinen Kompositionen und finde die Études pour piano besonders faszinierend. Diese Stücke haben eine eigene musikalische Sprache. Nach einer gründlichen Ligeti-Recherche habe ich spannende Details zu seiner Persönlichkeit und Kompositionsstil entdeckt. Ich habe erfahren, dass er sehr von dem mexikanisch-amerikanischen Komponisten Conlon Nancarrow beeinflusst wurde. Nancarrow hat 49 Etüden für Player-Piano, also ein selbstspielendes Klavier komponiert. Ligeti war begeistert von der Komplexität und der temporalen Vielschichtigkeit dieser Kompositionen. Der Geschwindigkeitsgrad bei so einer Etüde für Player-Piano ist unvorstellbar für die menschlichen Möglichkeiten. Die Etüden von Ligeti grenzen auch an technisch unspielbare Musik und stellen den Pianisten vor große Herausforderungen.  Trotzdem erklingen sie sehr logisch und in sich geschlossen. Ligeti deutet das Konzept der unmenschlichen Musik an, die manchmal entfernt von unserem Verstand klingt.  Ich habe die Etüden von Chopin dem Programm hinzugefügt, weil sie, im Kontrast zu Ligeti, einen melodischen Schwerpunkt haben und zusammen mit den impressionistischen Farben von Debussy ein ausbalanciertes Gesamtbild ergeben. Da sowohl Chopin als auch Debussy Klavierzyklen, die aus 24 Präludien bestehen, komponiert haben, war die Auswahl der Komponisten für den Präludien-Block eindeutig. Kapustin ist dazugekommen, weil ich ein strahlendes Ende des Programms gesucht habe. Ich wollte nach so viele komplizierte Verbindungen und tiefsinnige Gedanken einen positiven und offenen Schluss haben.

Darf man denn als Musikerin bestehende Zyklen auseinanderreißen und sie neu zusammensetzen?
Dies ist eine wichtige Frage, die mich immer beschäftigt hat. Wieweit darf man bei einer Komposition als Interpretin eingreifen? Mit meinen dramaturgischen Ideen glaube ich, eine Antwort für mich gefunden zu haben. Basierend auf musikwissenschaftlichen Analysen erstelle ich eine musikalische Struktur im Voraus in der ich  Einzelwerke so positioniere, dass sie mit der neuen Reihenfolge eine eigene Bedeutung bekommen. Dieser Prozess ist ein künstlerisches Komponieren in sich und erlaubt mir, in diesen Rahmen bestimmte Änderungen in der Interpretation zu machen.

Dora Deliyska
© Andrej-Grilc

Im Falle Ihrer CD ist das ja gelungen, denn diese neuen Zyklen besitzen nicht nur Eigenständigkeit, sie lassen den Hörer die Stücke in einem ganz anderen Licht erscheinen. Wie sind Sie vorgegangen?
Ich finde es ist wesentlich, die ausgewählte Klavierzyklen, also in diesem Fall die von Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin und deren Einzelstücke bis ins Detail kennenzulernen, ehe man dann versucht, sie umzustrukturieren. So habe ich zum Beispiel die Präludien von Chopin nicht nur einzeln studiert, sondern auch die Weise, wie sich jedes Stück in Verbindung zu jedem anderen verändert. Wie erklingt das erste Präludium, wenn man gleich danach Nr. 3 statt Nr. 2 spielt oder Nr. 4 statt Nr. 2? Und auch rückwärts: welche musikalische oder konzeptuelle Verbindungen entstehen, wenn man das Präludium Nr. 24 und Nr. 23 spielt, oder Nr. 24 und Nr. 22 usw. Es ist fast wie eine komplizierte Mathematik-Aufgabe. Dieser lange Prozess benötigt viel Zeit und Konzentration, bis sich die Einzelstücke zusammenfinden und eine neue Ordnung entsteht.

Beim Etüden-Zyklus sind die Werke kräftig durchmischt, beim Präludien-Zyklus folgen die Komponisten nacheinander, also zuerst Chopin, dann Debussy, dann Kapustin.
Die zwölf Etüden sind nach Intervallen geordnet, von einer wiederholten Note im Zauberlehrling – Ligeti nennt das Continuum, ich hingegen bezeichne es als ein Zero-Intervall – über den Halbton-Schritt Pour les degrés chromatiques von Debussy bis zu Ganzton-Schritt, Terz, Quart, Quint, Sext, Septim und Oktav  hin entwickeln sie eine aufbauende Struktur und musikalische Spannung. An letzter Stelle hört man die Etüde Pour les accords von Claude Debussy, bei der man die Akkorde als Kombination von Intervallen betrachten kann. Die zwei Arpeggio-Etüden davor, jeweils eine von Chopin und eine von Debussy, gelten als Beispiel für zerlegte Intervalle, die starke harmonische Nuancen und Farben bilden. Der zweite Teil des Programms besteht aus drei Kompositionsblöcken – fünf Präludien von Chopin, vier Präludien von Debussy und drei von Kapustin. Die Zuhörer können so die deutlichen Stilunterschiede noch genauer erkennen. Diese zwölf Präludien spiegeln den ersten Teil wider und bewirken eine Geschlossenheit des Programms, welches mit seinen 24 einzelnen Stücken als ein eigenes Kunstwerk und als ein eigener Klavierzyklus betrachtet werden kann.

Beim Hören erscheinen insbesondere die Etüden von Chopin und Debussy im Zusammenhang mit denen von Ligeti plötzlich sehr modern.
Für viele Zuhörer sind die komplexen Kompositionen von Ligeti nicht immer leicht zugänglich. In einer Verbindung mit den Klangfarben und harmonische Reiche von Chopin und Debussy erklingen diese Werke plötzlich viel verständlicher. Und umgekehrt. Die technisch herausfordernden Passagen bei Chopin verlieren plötzlich ihre Bedeutung und man hört moderne musikalische Ideen im Zusammenhang mit Ligeti. Das ist die Kraft der neu entstandenen musikalischen Struktur.

Nikolai Kapustin wirkt hier eher wie ein Fremder. Was können Sie uns über diesen Komponisten sagen?
Die Präludien von Nikolai Kapustin haben mich sehr mit den Jazz- Harmonien und komplexen Rhythmen fasziniert. Der ukrainische Komponist war ein hervorragender Konzertpianist, der viele Werke im Jazz-Stil geschrieben hat. Für mich, als klassisch ausgebildete Pianistin, bereiten diese Werke sehr viel Freude beim Spielen. Kapustin hat alles in akribischen Details notiert, sogar den Teil, der wie eine Improvisation klingt.

Wenn Sie ein solches Programm zusammenstellen, wirkt sich das denn auch auf die Interpretation aus? Spielen Sie Chopin anders, wenn Sie parallel Ligeti im Ohr haben, oder hat Ligetis Musik einen Einfluss auf die Art und Weise, wie Sie Debussy spielen.
Die Vorstellung, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelteile ist, wird in meinen dramaturgischen Projekten deutlich spürbar. Jedes ausgewählte Stück steht in einer engen Verbindung zu dem nächststehenden und dadurch werden Ideen, Nuancen und Klangfarben übertragen. Das gesamte Konzept ist aber der entscheidende Punkt für die Interpretation.

Wie viele andere ihrer Kollegen verlassen Sie mit dieser CD den Pfad der üblichen Hörgewohnheiten. Muss man heute als Interpret und auch Hörer umdenken und für die klassische Musik neue Wege suchen?
Ich habe immer eigene und persönliche Wege in der Interpretationskunst gesucht. Ich habe aber nie im Voraus geplant oder aber bestimmte Projekte bewusst so entwickelt, wie sie gerade gut bei der klassischen Szene ankommen. Für mich war es sehr wichtig, dass bei der Vorbereitung und beim Üben einen ehrlichen Zugang zu den Komponisten und zu deren Werken entsteht. Dieser Prozess spiegelt automatisch die Entwicklung der klassischen Musik und man sollte so den aktuellen Zustand wahrnehmen können.  Man darf sich aber als Interpret letztendlich nicht zu ernst nehmen. Wir Interpreten dienen der Musik, den Werken und Komponisten und das bedeutet, dass unsere Aufgabe darin besteht, auf der Bühne oder auf einer Aufnahme einzigartige Momente entstehen zu lassen. Ein Live-Performance oder eine Aufnahme können die emotionelle Welt der Zuhörer beeinflussen und wir tragen die Verantwortung dafür, diese Erlebnisse auf eine ehrliche Art und Weise zu bewahren.

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