Der heute 32-jährige Felix Mildenberger begann seine musikalische Ausbildung in den Fächern Violine, Viola und Klavier und studierte Orchesterleitung in Freiburg und Wien sowie beim Aspen Music Festival. Von 2015 bis 2017 lehrte er als Dozent für Orchesterleitung an der Hochschule für Musik Freiburg und leitete während der Mozartwoche 2020 einen Meisterkurs für junge Dirigenten an der Universität Mozarteum Salzburg. Schon jetzt arbeitet Mildenberger mit vielen Orchestern auf nationaler und internationaler Ebene.  Felix Mildenberger ist Erster Gastdirigent der Filarmonica Teatro Regio di Torino und führt damit ab 2022 seine bereits regelmäßige Arbeit mit dem Orchester fort.

Felix Mildenberger
@Yaltah Worlitzsch

Herr Mildenberger, Sie haben die 2018 die Donatella Flick Conducting Competition gewonnen und sind daraufhin Assistant Conductor von Simon Rattle beim London Symphony Orchestra  geworden. Wie sah denn diese Assistenz praktisch aus?
Eigentlich gibt es keine exakte Jobbeschreibung für eine Assistenz, denn diese Arbeit ist bei jedem Orchester und mit jedem Dirigenten etwas anders. Beim LSO war ich zweieinhalb Jahre. Ich hatte ich das Glück, häufig selbständig mit dem Orchester arbeiten und viele Familien- und Schulkonzerte, sowie Repertoireproben dirigieren zu können. Ein Großteil der Arbeit bestand natürlich auch darin, mit Simon Rattle zu arbeiten, ihm zu assistieren, Feedback zu geben, das Orchester zu dirigieren, während er sich im Saal die Akustik anhörte. Ich durfte bei einer Aufführung der BBC Proms in der Royal Albert Hall die offstage banda in Edgar Varèses  Amériques dirigieren, sowie bei Charles Ives Decoration Day als zweiter Dirigent auf der Bühne neben Michael Tilson Thomas fungieren. Hinzu kamen Vorproben, bei denen ich das Orchester vorbereitete, sowie eine regelmäßige Zusammenarbeit mit den Gastdirigenten. Also ganz schön vielseitig.

Sie waren zudem Cover conductor des erst kürzlich verstorbenen Bernard Haitink. Was kann man sich darunter vorstellen?
Ein Cover conductor ist jemand, der im Notfall für den Maestro einspringt. Und zwar zu jeder Zeit, gegebenenfalls sehr spontan. Altersbedingt und nach einem Sturz ging es Bernard Haitink in dieser Zeit gesundheitlich nicht mehr so gut. Meine Aufgabe war es, permanent präsent zu sein und in jedem Moment Proben und Konzert übernehmen zu können. Das heißt, ich musste Haitinks Interpretation sehr genau kennen, um im gegebenen Moment einzuspringen und das Konzert in seinem Sinne zu dirigieren, ohne selbst mit dem Orchester geprobt zu haben.

2014 gründeten Sie das Symphonieorchester Crescendo in Freiburg, dessen Chefdirigent und künstlerischer Leiter Sie bis jetzt sind. Was können Sie uns über dieses Orchester erzählen?
Das Symphonieorchester Crescendo Freiburg ist ein semi-professionelles Projektorchester, bestehend aus Profis, Musikstudierenden und Amateuren. Wir erarbeiten ein Projekt im Jahr und es ist neben all meinen anderen schönen Projekten bei Profiorchestern immer eine besondere Freude. Wir erarbeiten dort große Werke wie z.B. Mahlers 6. oder Bruckners 7. Sinfonie und nehmen uns dafür viel Zeit. Es ist für alle Beteiligten eine gute Möglichkeit, wichtige Erfahrungen zu machen und musikalisch zu reifen. Wobei die Stimmführerpositionen im Orchester von Profis ausgefüllt werden. Es ist also eine Plattform, wo alle voneinander profitieren und und viel lernen und mitnehmen können. Die jungen Amateure und Musikstudierenden lernen von der Erfahrung der Profis, die Profis wiederum genießen die schier überwältigende Spielfreude, Motivation und Neugierde der jungen MusikerInnen. Jeder Musiker spielt ehrenamtlich, auch wir im Vorstand erhalten keinen Lohn, denn die Einnahmen der Konzerte kommen immer gemeinnützigen Einrichtungen zugute. So konnten wir bereits viel Geld sammeln für Einrichtungen, die z.B. Flüchtlinge, Kinder aus benachteiligten Verhältnissen oder auch Hospize unterstützen. Zudem sehen wir uns als Musikvermittler und ermöglichen Schulkassen, unsere (moderierten) Generalproben zu besuchen.

Sie sind sehr früh mit starken Dirigentenpersönlichkeiten in Kontaktgekommen: Krivine, Paavo Järvi, Zinman, Haiting, Rattle, Noseda. Läuft man da als junger Dirigent dann nicht irgendwann Gefahr, zu viel zu kopieren?
Nein, diese Gefahr sehe ich nicht. All diese Dirigenten sind sehr unterschiedlich, was ihre Persönlichkeiten, aber auch ihre Interpretationen und Arbeitsweise betrifft. Kopieren funktioniert nie, da Gestik und Mimik, Arbeitsweise und Reflexion ja etwas sehr Persönliches sind. Natürlich schaut man sich das eine oder andere ab, man übernimmt vorübergehend natürlich auch gewisse Gesten und Techniken, aber sie müssen einem selbst auch entsprechen.  Es ist wie in anderen Berufen auch: Das Handwerk erlernt man vom Meister. Aber es geht doch um viel mehr. Von großen Dirigentenpersönlichkeiten lernt man, die Werke zu begreifen, sie für sich selbst greifbar zu machen und sie einem Orchester und einem Publikum zu vermitteln. Darüber hinaus ändern sich große Künstlerpersönlichkeiten stetig. Dirigenten wie Rattle oder Haitink sind ständig auf der Suche. Auch der mittlerweile über neunzig Jahre alte Herbert Blomstedt, mit dem ich intensiv in Tanglewood arbeiten konnte, stellt sich immer noch Fragen, wie er tiefer in eine Bruckner-Symphonie eindringen und es noch besser machen kann. Und das obwohl er dieses Repertoire seit Jahrzehnten dirigiert und quasi auswendig kennt.

Sie haben mehrere wichtige Preise gewonnen. Wie hilfreich sind solche Preise und tragen sie nicht auch ein Risiko mit sich?
Ja, aber mit Erwartungen ist man in diesem Beruf ohnehin dauernd konfrontiert. Preise sind wichtig, da sie einem Aufmerksamkeit und gewisse Chancen bescheren. Wettbewerbe bzw. Preise können dabei helfen, auf sich aufmerksam zu machen, gesehen zu werden, und im besten Falle Kontakte, Chancen und Gelegenheiten zu bekommen, die so wichtig sind, um sich in diesem Beruf entwickeln zu können.

Seit der Spielzeit 2020/21 sind Sie erster Gastdirigent der Filarmonica Teatro Regio in Turin. Italienische Symphonieorchester haben ja international nicht den besten Ruf. Wie sehen Sie das?
Ich kann das nicht so bestätigen. Italien ist natürlich vor allem ein Land der Oper und demnach gibt es viele Opernorchester. Und sehr gute Opernorchester! Ein reines Opernorchester hat ganz andere Stärken als ein reines Symphonieorchester – und umgekehrt. Das kann man also kaum vergleichen.
Die Filarmonica Teatro Regio di Torino ist ein selbstständiges Sinfonie-Orchester und verwaltet sich eigenständig, ohne Management. Die Musikerinnen und Musiker organisieren alles selbst, aus purer Freude und dem Drang, etwas Eigenes gestalten zu wollen, außerhalb des von der Theaterleitung vorgegebenen Spielplans.
Alle sind bei jedem Projekt hochmotiviert und engagiert, das ist eine sehr besondere Stimmung. Das ist natürlich eine gute Voraussetzung für eine gute Arbeitsatmosphäre und Qualität und die zeigt sich auch in der tollen Dynamik dieses Orchesters. Natürlich gibt es in Italien immer wieder finanzielle Probleme, weil die klassische Musik oft zu wenig Wertschätzung von der Politik und den Sponsoren erhält. In Turin haben wir aber das Glück, dass Herr Giuseppe Lavazza Präsident des Orchesters ist. Und der ist absolut musikbegeistert und hat auch sehr viele wertvolle Kontakte. Zudem ist Gianandrea Noseda „Direttore Emeritus“, sein Renommee hilft dem Orchester ebenfalls.

Als Kind und Jugendlicher haben Sie mehrere Instrumente gespielt. Was hat Sie bewogen, Dirigent zu werden?
Meine Erfahrungen als Geiger in Jugend-Sinfonieorchestern, die Liebe zum sinfonischen Repertoire und der Wunsch, das größte und farbenreichste Instrument, das es gibt, zu « spielen »: das Orchester. Wir Dirigenten produzieren selbst keinen einzigen Ton und doch sind die Gestaltungsmöglichkeiten schier grenzenlos.Das fasziniert mich.

Felix MildenbergerWas bedeutet für Sie Interpretation?
Zu interpretieren bedeutet für mich zunächst einmal „zu übertragen“. Beschäftigen wir uns mit Werken von Komponisten, die nicht mehr leben, sind die einzigen Dinge, die uns zur Verfügung stehen, der Notentext und gewisse biografische Hintergründe, Zitate, Essays, Interviews, Programmzettel, Briefe etc. Der Notentext an sich ist aber bereits ein Art Übertragung, weil ein/e Komponist/in, um seine/ihre Musik aufführbar zu machen, sie zu Papier bringen und in ein existierendes Notationssystem bringen muss. Dieses System hat gewisse Regeln, d.h. es ist bereits hier eine Übertragung notwendig, um das, was mehr oder weniger abstrakt nur in der Vorstellung des Komponisten existiert, in diese zwar anpassbare und erweiterbare, aber doch vorgegebene Form zu bringen. Diese Übertragung bringt Kompromisse mit sich. Unsere Aufgabe als Interpreten ist es u.a., den Notentext, zu interpretieren, d.h. erneut zu übertragen auf die tatsächlich Ausführenden, die Instrumente, Stimmen etc. und de facto diesen Prozess der ursprünglichen Übertragung und den ein oder anderen dadurch entstandenen Kompromiss rückgängig zu machen.
Wir versuchen, die ursprüngliche Intention des Komponisten zu ergründen, zu verstehen und verständlich bzw. hörbar zu machen. Wir versuchen, seine/ihre Notationsweise zu verstehen, Systematisches zu erkennen und so dem Ursprungsgedanken möglichst nahe zu kommen, ggfs. die Aussage, den Charakter, die Stimmung zu erschließen.
Wir kennen eine Symphonie als ein abgeschlossenes Werk. Aber es ist sehr wichtig für die Interpretation, den Weg des Komponisten bis dahin zurückzuverfolgen. Warum schrieb er dieses Werk? Wie war seine Befindlichkeit? Was wollte er ausdrücken, verarbeiten? Was waren die Möglichkeiten seiner Epoche?
Das bedeutet zunächst einmal, dass ich mich als Künstler zurücknehmen muss in meinen eigenen Ansichten, Gewohnheiten, Präferenzen etc., um dem Willen des Komponisten möglichst nahe zu kommen.
Erst wenn wir diesen Prozess durchlaufen haben und das fertige Werk einordnen können, versuchen wir als Interpreten, all diese Erkenntnisse zuerst auf das Orchester zu übertragen, sie zu einem musikalischen Resultat zu bündeln und anschließend dem Publikum zu vermitteln. Das Publikum wird ein Werk zwangsläufig immer durch die Augen und Ohren der Interpreten kennenlernen. Eine gewisse subjektive Komponente fließt also immer mit ein und das ist auch in Ordnung und ja durchaus bedacht bzw. gewollt von den Komponisten. Denn sonst würde jedes Werk selbst unter verschiedenen Dirigenten immer gleich klingen. Das wäre doch langweilig. Musik ist nie etwas Festgebundenes oder Starres, sie lebt von Spontaneität und Vielseitigkeit hinsichtlich der Deutung und Ausführung.
Aber das unbedingte und nüchterne Ergründen dessen, was geschrieben steht, muss immer zuerst stattfinden, bevor subjektive « Zutaten » hinzukommen.

Hat man als aufstrebender junger Dirigent denn keine Schwierigkeiten, sich bei den renommierten Orchestern durchzusetzen?  Diese Musiker sind ja oft  alle langjährige Profis und Experten.
Natürlich muss man sich Vertrauen erst verdienen. Und das erreicht man durch Professionalität, Demut, Respekt, klare Visionen, Hingabe und Begeisterung, und vor allem durch Menschlichkeit. Aber es ist ein langer, harter Weg, den jeder Dirigent am Anfang seiner Karriere durchlaufen muss. Keiner kommt an dieser harten Schule vorbei.
Die Herausforderung und gleichzeitig das Ziel bestehen darin, Menschen unser Alter vergessen zu lassen und sie durch auf dem Notentext basierende Argumente dazu zu bringen, uns folgen zu wollen. Wenn die professionellen Orchestermusiker, die all diese Werke schon hundertmal gespielt haben und sie in- und auswendig kennen, spüren, dass Du vorbereitet bist und etwas zu sagen hast, wenn sie Deine Lust an der Gestaltung und der Zusammenarbeit mit ihnen spüren, dann ziehen sie in der Regel problemlos mit. Dann spielt das Alter keine Rolle mehr.

Wie wird man ein guter Dirigent, sowohl auf interpretatorischem wie auch auf sozialem Niveau?
Da gibt es kein Geheimrezept. Übung macht den Meister. Alle Berufe, auch die  künstlerischen, zeichnen sich durch lebenslanges Lernen aus. Man kann gewisse Veranlagung und Talente mitbringen, ein guter Dirigent wird man aber tatsächlich erst durch sehr, sehr viel Praxis. Wenn man Werke mehrmals dirigieren, verschiedene Dinge ausprobieren, Stellen auch mal anders machen kann, dann wächst die Erfahrung enorm. Wie eben bei einem Instrumentalisten auch, der jedoch – und das ist der große Unterschied – jederzeit sein Instrument in die Hand nehmen und üben kann. Wir brauchen immer ein ganzes Orchester. Daher ist es wichtig, dass man jede Gelegenheit nutzt, Erfahrungen zu sammeln und zu reifen, dass man sich treu bleibt, Geduld, klare Ziele und natürlich etwas Talent besitzt. Wertvoll ist zudem, wenn man Vertraute um sich herum hat, Mentoren, Lehrer, Freunde, Kollegen, mit denen man sich austauschen kann, von denen man hilfreiche Ratschläge und ehrliches Feedback bekommen und annehmen kann. Man darf nicht zu einem egozentrischen Einzelgänger werden, denn diese Gefahr besteht in unserem Beruf. Darum ist auch ein gutes Management wichtig, das schrittweise und zusammen mit dem jungen Dirigenten seine Karriere plant. Sehr hilfreich ist auch, wenn man regelmäßig mit den gleichen Orchestern arbeiten kann. Denn das ermöglicht eine kontinuierliche Arbeit, man kann gemeinsam etwas verändern, ein Profil herausarbeiten. Wenn Musiker und Dirigent sich gut kennen, verläuft die Zusammenarbeit sehr schnell auf einem höheren Level. Und dann ist auch das musikalische Resultat oft besser.

Wann ist für Sie ein Konzert besonders gelungen oder eben ‘magisch’?
Das ist sehr schwer zu beschreiben. Ein magisches Konzert besitzt immer etwas Geheimnisvolles, etwas Unerklärliches. Es ist ein Konzert, bei dem alles zu passen scheint. Für mich bedeutet es, wenn alle gemeinsam atmen, den gleichen musikalischen Schwerpunkt empfinden, die gleiche Schwingung, den gleichen Flow. Kurz gesagt: Wenn aus Individuen ein Ensemble wird und alle zu einer Einheit auf der Bühne werden.

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