Esa-Pekka Salonen übers Dirigieren, Komponieren, den fetten Hintern der Klassik und Lady Gaga. Ein Interview von Remy Franck (Pizzicato 04/11)

Esa-Pekka Salonen et Rémy Franck à Tampere (Finlande)

Grundsätzlich versteht sich der Finne Esa-Pekka Salonen vor allem als Komponist. Aber er ist auch ein anerkannter Dirigent.Im folgenden Interview spricht er sowohl vom Dirigieren als auch vom Komponieren. Das Interview entstand 2011, als Salonen von der ICMA-Jury zum ‘Artist of the Year’ gekürt wurde.

Herr Salonen, Sie sind Komponist und Dirigent, wie gewichten Sie beide Aktivitäten?

Fifty, fifty! Aber ich sehe mich nicht als zwei verschiedene Geister. Ich bin ein Musiker, der Musik schreibt und aufführt. Das war in früheren Zeiten etwas ganz Normales, etwas Gängiges. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte sich das, wahrscheinlich wegen des allgemeinen Trends einer letztlich ungesunden Spezialisierung. Die Idee, dass jemand in mehr als einer Sparte aktiv ist, ist heute unpopulär, um nicht zu sagen suspekt. Das sei nicht seriös, meinen manche. Wo endet das? Dass wir eines Tages nur halbe Sachen machen?

Welche Gefühle haben Sie, wenn Sie hören, wie andere Dirigenten Ihre Werke dirigieren und interpretieren?

Das ist wie mit den Kindern. Wenn sie klein sind, will man sie beschützen. Wenn ich ein Werk zum ersten Mal dirigiere, suche ich ja erst einmal nach der perfekten Balance, und es kommt vor, dass ich im Orchestermaterial noch Änderungen vornehme. Dann kommt der Moment, wo das Stück fertig ist und in die Welt geht. Manchmal wird es ganz wunderbar aufgeführt, manchmal weniger gut und manchmal sogar schlecht. Damit muss man als Komponist leben können. Und wenn ich ein Werk von mir in der Interpretation eines Kollegen höre, entdecke ich manchmal Dinge, die ich vorher gar nicht so gesehen hatte. In meinem Kopf sind ja meine Ausgangsidee und die Noten eng verbunden. Andere Dirigenten haben nur die Noten. Und das ist auch eine Art Test für mich. Wie klar habe ich mich ausgedrückt? Aber darum geht es ja immer: jeder Interpret versucht, ein Stück zum Leben zu bringen und neue Ideen zu finden.

Gelingt es Ihnen denn gut, diese Balance zwischen Ihren Aktivitäten als Dirigent und Komponist zu erreichen?

Es ist ein ständiger Kampf des Komponisten gegen den Dirigenten. Wie bei Mahler. Er hat sein Leben der Wiener Hofoper geopfert. Solche Institutionen sind Monster. Sie pressen den ganzen Lebenssaft aus einem heraus.

Gibt es Perioden im Jahr, wo Sie lieber komponieren als zu einem anderen Zeitpunkt?

Als ich in den USA lebte, waren es die Sommermonate und auch zwei Perioden im Winter. Seit ich in Europa zurück bin, haben mich die Sommerfestivals so beschlagnahmt, dass die Sommerphase schwieriger zu gestalten ist.

Sie waren Chefdirigent des ‘Los Angeles Philharmonic’ und leiten jetzt das Philharmonia in London. Was unterscheidet beide Orchester?

Die Stellung des Orchesters in der Stadt! In Los Angeles gibt es nur ein Philharmonic. Es ist eine Institution und spielt eine eminente kulturelle Rolle, eine Leaderrolle sozusagen. In London gibt es fünf Symphonieorchester, und keines von ihnen spielt eine so zentrale Rolle wie das L.A. Phil. Aber die Tatsache, dass in London nichts besser ist als das Konzert vom Abend zuvor, ist auch sehr anregend und herausfordernd. Ich möchte meine amerikanische Zeit nicht missen, aber ich bin auch froh, diese neuen Erfahrungen in London zu machen.

Sie haben beim Philharmonia einen sehr guten und aufwändigen Internet-Auftritt. Wie wichtig ist das?

Dem Internet kommt heute im Musikleben eine Schlüsselrolle zu. Für jedes großes Projekt des Philharmonia wünsche ich mit eine spezielle Internet-Begleitung für mehr Dialog, mehr Interaktivität. Es erlaubt dem Musikfreund, tiefer in die Welt der Musik einzudringen. Es geht darum, einen Kontext zu schaffen, Hintergrundinformationen zu geben, Bezüge zu erstellen. Die Übertragung von Konzerten mag wichtig und gut sein, weil es immer gut ist, Musik so gut wie möglich zu verbreiten, aber für  mich ist das Internet vor allem ein Instrument der Informationsvermittlung. Und der Sensibilisierung! Leute werden davon abgehalten, in Konzerte zu gehen, weil sie Angst haben, die Musik nicht zu verstehen. Wenn wir im Vorfeld den Kontext schaffen und Ihnen den Eindruck geben, dass die Barrieren damit schon gefallen sind, haben wir bereits gewonnen. Es muss etwas geschehen. Es genügt nicht zu klagen. Jahrzehntelang saß die Klassikwelt auf ihrem fetten Hintern und es ging wertvolle Zeit verloren. Aber es ist nicht zu spät. Es gibt gottseidank immer mehr junge Interpreten, die erkannt haben, dass es wichtig ist, einen direkten Kontakt zum Publikum herzustellen.

Wie stehen Sie zur historisierenden Aufführungspraxis?

Es ist fasch zu glauben, man könne zu einer wirklich authentischen Interpretation gelangen. Sie können ein Orchester nach Esterhazy bringen, es in zeitgemäße Kostüme stecken, ihm historische Instrumente geben, es vor dem Konzert mit der Nahrung füttern, die auch Haydn schon ass… es bleibt immer etwas, was Sie nie ändern können, das Publikum. Das Publikum hat die Musik gehört, die nach Haydn entstand, Beethoven, Brahms, die Beatles und – Gott helfe uns – Madonna sowie Lady Gaga. Das können Sie nicht rückgängig machen. Sicher, die historisierende Bewegung hat manches gebracht, sie hat Musik entstaubt, vitaler werden lassen, aber das ist es dann auch schon. Boulez sagte mir einmal, das Schlimmste, was er sich vorstellen könne, sei, dass es jemandem gelingen würde, den ‘Marteau sans maître’ genau so aufzuführen, wie das Stück bei der Uraufführung klang.

Sie dirigieren ständig die besten Orchester der Welt. Jedes hat seinen eigenen Sound. Und dann kommen Sie als Dirigent und haben gewiss auch Ihre eigene Vorstellung vom Klang. Wie geht das dann?

Idealerweise sollte jedes Werk seinen ganz eigenen Klangcharakter haben, aber das ist eine abstrakte Idee, denn wir arbeiten ja mit Menschen. Es wäre verrückt, das ‘New York Philharmonic ‘so klingen zu lassen wie ein anderes Orchester, aber innerhalb des Identitätsrahmens eines Orchesters kann der Dirigent noch sehr viel machen in Sachen Balance, Artikulation, etc. Für mich sind die interessanten Dirigenten jene, die den Klang manipulieren können, Karajan etwa. Er war ein Meister nicht nur der Kontrolle des Klangs, sondern der Klanggestaltung. Er gab dem Klang eine expressive Rolle.

Vor einem Monat war ich in Chicago und dirigierte Bruckners Siebte. Wir spielten zwei Minuten und ich sagte zu mir selber: Das ist richtig schön, das gefällt mir. Und ich werde das nicht ändern.

Früher war ich in dieser Beziehung destruktiver. Wenn ich einen Klang im Kopf hatte, dann wollte ich den auch erreichen. Ich gab nicht auf, bis ich den Eigenklang des Orchesters völlig zerstört hatte und hatte dann kaum noch Zeit, alles wieder zusammen zu setzen. Ich hinterließ hie und da so manche rauchende Ruine und im Laufe der Zeit erkannte ich, dass das nicht unbedingt der richtige Weg war. Ich bekomme bessere Resultate, wenn ich den Charakter des Orchesters wahre. Und das ist für mich auch durchaus faszinierend. Heute arbeite ich ohnehin nur mit ganz wenigen Orchestern, und weil ich sie dann auch gut kenne, kann ich manchmal auch extremere Forderungen stellen, weil ich weiß, dass wir das wegen unserer tiefen Beziehung auch tatsächlich erreichen können.

Zeitgenössische Musik hat sehr viele Tendenzen. Einigen Komponisten gelingt es, die Zuhörer zu erreichen, anderen nicht. Sie gehören zur ersten Kategorie. Wie machen Sie das?

Ich schreibe Musik, die in mir etwas bewegt. Ich sehe mich zunächst einmal auch als Empfänger, als Zuhörer. Wenn ich ein Stück oder einen Teil eines Stücks schreibe, spiele ich es mir zunächst in meinem eigenen Kopf vor. Wenn der Zuhörer in mir glaubt, es sei gut und interessant, aufregend oder berührend, dann notiere ich es. Wenn es meinem internen Zuhörer gefällt, gibt es eine gute Chance, dass es auch anderen, vielleicht sogar vielen gefällt. Als ich studierte und mit dem Komponieren begann, war es im Milieu quasi unmöglich das Wort Publikum zu gebrauchen, denn das Darmstädter Dogma sah beim Komponieren das Publikum als das unwichtigste Element an. Und wenn niemand zuhören würde, war das denen auch noch egal. Es ging ja nur um die Intentionen des Komponisten. Ich wuchs in dieser Tradition auf und glaubte sogar daran. Aber dann merkte ich, welch großen Abgrund es zwischen der Musik gab, die ich gerne hörte und gerne dirigierte, weil sie mich bewegte, und meiner eigenen Musik, die mich nicht bewegte. Und daher hörte ich auf zu komponieren, weil ich diesen Abgrund nicht überbrücken konnte. Als ich denn in L.A. war, älter und reifer geworden und vor allem weit entfernt von Europa und den Dogmen der postseriellen Musik, sagte ich mir: Jetzt bist du frei. Du kannst machen was du willst. Es geht nicht um einen Prozess, es geht nicht um richtig oder falsch, es geht darum, dem eine Erfahrung zu ermöglichen, der die Musik hört. Wenn Sie Beethoven oder Mozart die Frage gestellt hätten, ob das Publikum wichtig sei, wären sie wohl mehr als überrascht gewesen. Sie waren professionelle Komponisten, die gewohnt waren Musik für ein Publikum zu schreiben. Das war also der Wendepunkt in meinem Leben. Das heißt nicht, dass ich in der seriellen und postseriellen Schule nicht auch Musik finde, die ich mag und auch gerne aufführe, Ligeti, Lutoslawski, Berio, Boulez, Xenakis…  Man darf nicht annehmen, dass es in der Musik etwas Richtiges und etwas Falsches gibt, dass das eine erlaubt und das andere nicht erlaubt ist, wie einige nach dem Zweiten Weltkrieg felsenfest glaubten. Wenn der junge Boulez schrieb, jeder, der nicht von der Notwendigkeit der seriellen Musik überzeugt sei, für die Musik wertlos, erinnert mich das an das Zhdanov-Dekret von 1948, mit dem Prokofiev und Shostakovich ‘stillgelegt’ wurden. Boulez hat sich freilich auch viel verändert….Es geht nicht um Wahrheit. Die Musik ist kein Wahrheitsbusiness. Das überlasse ich den Politikern. Die sind sehr gut darin.

Was hörten Sie denn, als Sie jung waren?

Klassische Musik, auch zeitgenössische Musik! Als Kind hatte ich mit Bruckners Vierter und Messiaens ‘Turangalîla’ besonders prägende Erlebnisse. Als ich ‘Turangalîla’ gehört hatte, sagte ich mir: Wenn neue Musik so klingen kann, dann will ich Komponist werden. Ich war damals elf. Bruckners Vierte wurde und ist immer noch eines meiner Lieblingswerke. Und dann hatte ich diese ‘Bohème’ immer im Kopf, die mein Vater gekauft hatte und dauernd spielte, eine Aufführung in deutscher Sprache. Und als ich die Oper dann einmal in italienisch hörte, klang alles falsch.

Haben Sie die ‘Bohème’ jemals dirigiert?

Nein! Ich kann das nicht! Ich kann das Werk immer noch nicht hören! Es klingt falsch… Rock und Pop entdeckte ich eigentlich erst in meinen Dreißigern. In L.A. hatte ich junge Fahrer, die mich nach dem Konzert nachhause brachten, und Sie waren überzeugt, dass mir etwas fehlte, weil ich nichts von Rock und Pop verstand. Und so gaben sie mir in dieser Materie eine regelrechte Erziehung. Es war gut, um nach dem Konzert meinen Kopf zu läutern… das war perfekt…  Wissen Sie, ich war, als in jung war, eher ein Einzelgänger. Ich war auch ein Einzelkind. Meine Schulkameraden teilten meine Liebe zur klassischen Musik nicht, und Sport interessierte mich nicht. Komponieren half mir, meine eigene Welt zu schaffen. Mein erstes aufgeführtes und veröffentlichtes Werk stammt aus dem Jahr 1976. Ich war damals 18. Es war ein Stück für Horn und Klavier (Salonen hatte Horn gelernt, Anm. der Red.). Mein Lehrer Rautavaara hatte mir gleich einen Verleger besorgt. Das war nicht gut. Einige meiner frühen Werke wurden so veröffentlicht und jetzt kann ich das nicht mehr stoppen.

Wie komponieren Sie?

Ich habe sehr selten ein fertiges Konzept. Ich sammle ständig Material, denn, was ich nicht will, ist am Anfang meiner Kompositionsperiode im Studio zu sitzen und in Panik zu machen, weil ich keine Ideen habe und auf ein leeres Blatt starre. Ich sammle Ideen, Rhythmen, Themen… und wenn ich dann mit dem Komponieren beginne, habe ich schon einiges an Material vor mir liegen und meistens finde ich etwas, was die Basis für mein nächstes Stück wird.

  • Pizzicato

  • Archives