Remy Franck im Gespräch mit dem Komponisten Klaus Huber. Das Interview stammt aus dem Jahre 2004 und wurde in der Druckausgabe von Pizzicato erstveröffentlicht. Anlässlich des Todes von Klaus Hubert am 2.Oktober 2017 wird es hier noch einmal zugänglich gemacht.

Klaus Huber
Photo: OPL/Hurlin

Herr Huber, Sie schreiben keine leichte Musik und Sie machen es dem Hörer unter Umständen nicht leicht, Zugang zu Ihrer Musik zu finden….
Ja, gibt es denn wirklich leichte Musik, zeitgemäße leichte Musik, wenn man damit nicht die Unterhaltungsmusik meint? Ich würde nicht sagen, dass ich eine hermetische Musik schreibe, das habe ich nie gemacht. Ich schreibe aber auch wiederum keine Musik, mit der ich das Ohr des Hörers so gewinnen möchte, dass es sich darüber täuscht, was denn nun wirklich hinter dieser Musik verborgen ist. Und da ich eigentlich meistens keine leichten Inhalte mit meiner Musik transportiere, ist eine der Konsequenzen, dass ich eine Musik schreibe, die auch labyrinthische Seiten hat. Nun gibt es ja nicht ‘die’ Sprache der neuen Musik sondern es gibt die zeitgenössischen Musiken, die sehr verschiedene Sprachen haben.
Meine Musik ist insofern auch noch verschlüsselter – wenn man das so sehen will -, weil ich meine Musik nicht in einer subjektiv persönlichen Sprache immer gleich weiter entwickelt habe. Ich habe also nicht von einer Wurzel aus die Pflanze entwickelt, sondern von verschiedenen Ausgangspunkten. Es ist also keine deduktive Musik wie z.B. die Musik von Boulez, die von einer bestimmten Sache ausgeht, und dies dann differenziert, so dass man sozusagen die Grammatik der Sprache gleich mit kriegt. Ich meinerseits spreche verschiedene Sprachen. Das mag wohl damit zusammenhängen, dass ich Schweizer bin, als kleiner Bube in München war und dort hochdeutsch sprach, obwohl meine Mutter Schwäbin war, sonst aber eigentlich immer schwäbisch sprach, dann das Bernerdeutsche gelernt habe und mich auch für alle anderen Dialekte interessiere…

Das macht es dann auch schwierig, Ihre Musik einzuordnen, sie in irgendeine Form zu pressen, Ihnen ein Etikett anzuheften.
Es mir schon sehr genehm, wenn man ihr kein Etikett anheftet, mich nicht einzuordnen versucht. Die Medien sehen es leider von Zeit zu Zeit als Notwendigkeit an, irgendwelche Schubladen zu öffnen, um etwas darin zu versorgen oder manchmal auch, um es darin verschwinden zu lassen. Meine Musik ist im Großen und Ganzen eine emotionale Sprache, eine Sprache, die die Seele nicht ausklammert. Der seelische Bereich ist ja in einer gewissen Tradition das Gegenteil von Aufklärung, von Rationalität. Ich arbeite überlegt, sehr rational, aber eben auf die verschiedensten Weisen. Ich habe mit Sicherheit in meinem Leben mehr kompositorische Methoden gefunden, entwickelt und weiter entwickelt als manche meiner Kollegen zusammen. Aber, dann mache ich das nicht ein Leben lang, sondern ich werfe es auch wieder mal hinter mich und versuche, diese so genannte Begrenzung zu überschreiten. Es ist also nicht so, dass ich so ein Feld gleich von der Jugend an mir abgegrenzt hätte, wo sich jetzt meine Musik drin befindet und dann da  eine Burg baue, die möglichst schnell immer stärker befestigt würde und mich nur noch interessiere für das, was ich sozusagen auf mein Terrain hineinziehen kann. Ich öffne gerne immer wieder mal alle Türen durchbreche die Mauern und gehe wieder in ein Neuland hinein. Damit wird die Musik komplexer, nicht im Sinne der ‘New Complexity’, sondern im sprachlich ästhetischen Sinne. Ich bin also kein Vertreter der exklusiven Musik, wo dies und das in der Musiksprache drin ist und alles Übrige gehört nicht hinein, wird also rausgeworfen. Ich arbeite eher in dem Sinne einer inklusiven Musik. Ich betrachte alles, was draußen ist, aber mich interessiert nicht alles. Manches jedoch und auch andere Musikkulturen, die so genannten außereuropäischen Musikkulturen, sind dann die hereinbrechenden Ränder, die meine Weiterentwicklung beeinflussen.

Aber Sie machen keine Konzessionen an den Geschmack des Publikums…
Es gibt keinen Geschmack des Publikums, es gibt nur den Geschmack derer, die sagen, das Publikum habe einen schlechten Geschmack. Ich habe mit manchen meiner wichtigsten Werke kein besonders alternatives Publikum erreicht und das ist für mich eine Bestätigung, dass es diese Sperre eigentlich nicht gibt. Es kommt nur darauf an, wie gut eine Musik vermittelt wird. Die Vermittlung, die Interpretationen spielen eine große Rolle. Ich meine damit, dass es auch Uraufführungen gibt, die so sind, dass man nicht dem Publikum vorwerfen kann, es habe nichts verstanden, sondern die Musik ist in unzulänglicher Art dargeboten worden. Das Publikum sagt dann, das klinge scheußlich. Würde man alle Musik der Gegenwart, also die so genannte Neue Musik und die zeitgenössische Musik so gut und so authentisch spielen wie man heute einen Mozart spielt, dann wäre diese Verständnisbarriere viel kleiner.

Sie machen also den Interpreten, den Musikern eigentlich, den Vorwurf, die zeitgenössische Musik nicht ernst genug zu nehmen und sie nicht gut genug zu spielen?
Diesen Vorwurf mache ich nicht allgemein, aber es kommt eben vor, dass er durchaus angebracht ist. Nun ist ja heute ein Potential von Musikern vorhanden, die sich sehr ernsthaft mit neuer Musik befassen und sich dafür restlos engagieren. Ich persönlich habe meistens sehr gute Erfahrungen gemacht. Ich muss freilich relativierend auch sagen, dass das Publikum ja auch keine einheitliche Größe ist. Jeder muss auf seine Weise verstehen. Es ist keine Rede im populistischen Sinne, wo jeder genau das verstehen muss, was der Redner ihm einbläuen will. Man bietet eine Musik an, die verschiedene Menschen mit verschiedenen Empfänglichkeiten im Publikum auf verschiedene Weise verstehen oder auch missverstehen können. Es braucht also eine Kreativität des Zuhörens. Es gibt dann und wann ein begabteres Publikum und dann und wann ein weniger begabtes. Das hängt natürlich auch damit zusammen, wie ein Publikum erzogen wurde. In Basel hat es jahrelang ein hervorragendes Publikum gegeben, einfach deshalb weil Paul Sacher diese Musik dort vermittelt hat in so und so vielen Konzerten, jedes Jahr und mit einer Insistenz, ein Publikum, das dann aufnahmefähiger war als jenes einer Provinzstadt, wo diese Möglichkeiten nicht gegeben sind.
Aber wenn Sie meinen, ich hätte jetzt die Interpreten kritisiert, dann müsste ich dazu sagen: es müssen natürlich auch die Komponisten kritisiert werden, denn es gab eine gewisse Zeit, wo eine ‘musique érudite’ auch eine elitäre Musik war, wo der betreffende Komponist sagte: « Es ist mir völlig gleichgültig, ob das je jemand versteht oder auch nicht.
Die Musik muss absolut so sein, sie ist ein Meisterwerk und muss sich in dieser Weise entwickeln können. » Das ist mir eigentlich immer fremd gewesen. Ich war nie ein Anhänger der ‘musique pure’, also einer absoluten Musik im Sinne von einer übergeordneten Autorität, die dann sagt: « Das ist die vollkommene Musik und wenn ihr nichts versteht, dann liegt das an euch. » Ich meine, es ist eine dialektische Frage, die eigentlich eine Frage der Resonanz ist, und mich freut es immer ganz besonders, wenn ich merke, dass meine Musik Resonanz hat. Das ist nicht dasselbe wie Erfolg! Es kann eine Musik einen blendenden Erfolg haben mit einer höchst oberflächlichen Resonanz und es kann eine Musik, die eben nicht so erfolgreich ist, eine tiefere Resonanz haben. Mich interessiert eigentlich nur die Resonanz.

Das Problem ist ja, dass viele Leute heute gar nicht mehr richtig zuhören können, weil sie beständig von Klängen umgeben sind und zudem auch die intellektuelle Leistung nicht bringen wollen oder können, zuzuhören.
Das ist sehr wahr und wohl bemerkt von Ihrer Seite, und das ist dann in gewisser Weise eigentlich auch eine Ästhetik des Widerstandes, die ich betreibe, dass ich eben keine Kompromisse mache und nicht sage: Ich werde es jetzt ein bisschen eingänglicher machen, damit auch noch der, der eigentlich nicht bereit ist, zu hören, auch noch zuhört. Die Verstopfung der Ohren durch eine Manipulation des Ohrs, das sollte man nun auch nicht dem Publikum, und vor allem nicht jedem einzelnen zur Last legen. Das ist die Entwicklung der Medien, die dazu geführt hat, dass man Musik laufen lässt, damit die Hühner mehr Eier legen. Daraus ist eine Musikindustrie entstanden, die sich auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner trifft.
Es gibt ja da auch noch die formale Seite, selbst im filmischen Bereich, die besagt, dass der Mensch sich nicht länger als zweieinhalb Minuten auf die gleiche Sache konzentrieren könne. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, ich schreibe ein Streichquintett, das in etwa 33 Minuten dauert. Warum bitteschön sollte ich es dann schreiben, wenn es dann nicht möglich ist, sich mehr als zweieinhalb Minuten zu konzentrieren? Wenn dann die Medien mit solchen Behauptungen arbeiten, lange genug, plakativ, dann gewöhnt sich der Mensch an solche Reaktionen, und dann soll man doch nicht dem einzelnen Menschen ankreiden, sondern man sollte es der Marktstrategie, den Massenmedien ankreiden.
Doch die Zeit spielt überall mit. In dem Stück ‘Protuberanzen’, welches das Philharmonische Orchester Luxemburg aufgenommen hat, habe ich den ersten Satz mit ‘Enge des Marktes’ überschrieben. Dass das Stück so kurz ist, das hing auch irgendwie damit zusammen, dass der Hans Zender, von dem ich den Auftrag bekam, sagte: « Du kannst das große Orchester verwenden, aber bitte mach’ das Stück so kurz wie nur irgendwie möglich, denn in den Programmen haben wir doch recht wenig Zeit. » Ich habe dann eine sukzessive Version komponiert, drei kleine Stücke, die man nacheinander spielt, und um etwas Zeit zu gewinnen, können diese Stücke auch überlappend gespielt werden. Das ist dann die simultane Version. Es war wohl eine etwas polemische Angelegenheit und letztlich eine leicht ironische Musik. Jedoch wird man diese Ironie nicht so als Ironie hören.
In meinen Stück ‘In Tarsi’ ist ein Satz mit ‘Unità’ – Einheit – überschrieben, in Klammern ‘Rondissimo’. Darin habe ich versucht, so etwas wie planwirtschaftlich zu komponieren. Ich machte einen Plan, der wirklich fixiert ist bis aufs Äußerste und hatte dann das Ganze eigentlich nur noch aufzufüllen. Ich musste also die Elemente, die ich entwickelt hatte, so komponieren, dass sie im zweifachen sowohl als auch im dreifachen oder gar vier- fünf- oder sechsfachen Kontrapunkt liefen. Die ganzen Gruppen waren wirklich so gearbeitet, dass sie verschieden montierbar blieben und das alles in einer Symmetrie und in einer Umkehrungssymmetrie und das ging hervorragend, da ich da offenbar auch sehr viel Glück dabei hatte oder eben mit Talent das so hingebracht habe. Es war einfach hervorragend, bis auf eine Stelle, da brach plötzlich alles zusammen, es ging überhaupt nichts mehr, es war die totale Katastrophe. Dann  habe ich mir überlegt: Lasse ich das jetzt so, um sozusagen zu demonstrieren, dass die Planwirtschaft nicht gelingen kann? Doch dann hat es mir so wehgetan und ich habe es im Nachhinein doch noch etwas abgeändert, so, dass es dann doch noch zu einem übrigen passt, also nicht unangenehm klingt.

Ich komme auf die Ironie zurück, von der Sie sprachen, und die in der Musik nicht ironisch klingt.  Was wollen Sie denn eigentlich mitteilen? Was ist Ihr Urbedürfnis, sich mit zu teilen mit oder durch die Musik?
Es ist sicherlich nicht nur die Ironie, ich habe jetzt diese beiden Beispiele gewählt, weil sie der Thematik am nächsten waren. Was ich miteilen möchte, ist das Wesentlichste der Musik selber, denn die Musik ist eine Kunst, die das menschliche Ohr betrifft und das menschliche Ohr ist die intimste Brücke, die der Mensch besitzt zwischen dem Außen und Innen, und wenn diese Brücke einmal nicht mehr funktioniert, dann ist ein akustisches Ereignis außerhalb welches mich im Inneren nicht mehr berührt, oder eben umgekehrt: es gibt eine Musik, die innerlich erklingt, sich sozusagen im Inneren meines Ohres abspielt, aber wenn sie dann nach außen kommt, verloren geht, also gar nicht mehr existiert. Die Aufgabe ist und bleibt es also, die Musik zu retten

Über das rein Musikalische hinaus gibt es bei Ihnen doch sehr oft noch eine andere Bedeutung, eine andere Botschaft, beispielsweise durch einen Text, sei es jetzt eine religiöse Botschaft, eine mystische oder gar eine politische.
Sicherlich ist das so, auch wenn ich mich jetzt etwas zurück gezogen, die Hörner ein bisschen eingezogen habe. Aber im Grunde ist das so und es hängt einfach damit zusammen, dass ich auf die Gegenwart reagiere und, dass es die Themen sind, die mich am meisten berühren und bedrängen, von denen ich selber am meisten berührt bin, die in der Musik, die ich in der Zeit dann komponiere ihre Formulierung suchen oder finden müssen. Es dies auch ein Akt der Befreiung, dass ich mich aus bestimmten Situationen hinaus komponiere. Freilich gibt es auch Zeiten, da könnte ich gar nicht komponieren, selbst wenn ich wollte. Falls ich es aber tue, muss mich voll damit beschäftigen, bis sich etwas Brauchbares heraus kristallisiert, das ich über meine Musik sagen oder mitteilen möchte, sei es mit oder ohne Text. Wenn ich dann Texte verwende, arbeite ich meistens sehr, sehr lange an der Auswahl der jeweiligen Texte und um sie in ein Gesamtkonzept hinein zu bringen.

Sie reagieren also nicht spontan auf etwas was in der Außenwelt passiert, Sie schreiben keine ‘Wut über den verlorenen Groschen’…
Manchmal geht es über längere Zeit, aber auch manchmal schockweise. Bei dem letzten Stück, ‘Die Seele muss vom Reittier steigen’, welches in Donaueschingen uraufgeführt wurde und dann anschließend im Oktober 2002 in Paris die französische Erstaufführung hatte, da war ich eigentlich mit einem Avicenna-Text beschäftigt, dem großen arabischen Wissenschaftler, Philosoph und auch Mystiker und bevor ich dann wirklich die Arbeit intensiv begonnen hatte, kam mir ein Gedichtauszug von Mahmoud Darwisch, dem Palästinenser in die Hände, mit dem Titel ‘Le Siège’, also ‘Die Belagerung’. Das hatte er im Januar in Ramallah geschrieben. Im April habe ich dieses Gedicht entdeckt, in französischer Sprache. Ich habe dann den Avicenna wieder raus genommen und den Mahmoud Darwisch hhinein und das war dann ein sehr direkter Entschluss. Das ging nicht anders, ich fühlte mich sozusagen gezwungen, das so zu tun und bei Darwisch fand ich dann auch manches bestätigt, was meine eigene Überzeugung ist, betreffend die Möglichkeiten der Kunst, also auch der Musik. Wenn eine Epoche einen destruktiven Sturm auslöst, verwendet er die Metapher des Sandsturms und sagt, die kleinen Tiere, die Insekten verkriechen sich zwischen zwei Steinen oder einer kleinen Höhle oder in der Baumrinde usw. und so überleben Sie. Dasselbe gilt für die Poesie. Die Poesie ist nicht so stark und groß, wie man immer meint, sondern von einer außerordentlichen Zerbrechlichkeit. Weil sie so zerbrechlich ist, kann sie enorme Wirkungen  auslösen, und er sagt dann, dass er aus der Zerbrechlichkeit eigentlich seine Waffe gemacht hat, um der gegenwärtigen Geschichte  zu widerstehen. Das finde ich natürlich eine sehr stark pointierte und überspitzte Formulierung, aber etwas davon stimmt. Man muss nicht immer meinen, das was am breitesten ausgegossen wird und die größte Verbreitung hat, sei auch das Eindringlichste und wirke am nachhaltigsten.

Sie schreiben also Musik aus existenziellen, aus humanistischen  Überlegungen heraus?
Die Existenz heute ist eine Existenz geworden, wo es auch darum geht, das Humane zu retten. Der Mensch wird immer mehr verdinglicht und es scheint, als sei dieser Zustand nicht aufzuhalten. Wenn diese Situation den Menschen ergreift, dann gibt es auch eine Verdinglichung seiner Künste, seiner Musik und da können die Künste mindestens versuchen, diese Verdinglichung aufzuhalten. Und wenn sie nicht aufzuhalten ist, dann können sie sie vielleicht bremsen oder zumindest nicht unwidersprochen lassen. Es geht eigentlich dann immer um das Humane, um die Rettung der Seele, wenn man es populärer ausdrückt. Es gibt ja in der Bibel den Satz « Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele ». Das ist in vollem Gange und wenn die Musik eine Aufgabe hat, dann ist es das Humanum zu verteidigen und die seelische Komponente zu retten.

Einzelne Komponisten wie Arvo Pärt beispielsweise oder auch Interpreten wie die amerikanische Gruppe ‘Anonymus 4’ machen Musik, die gewissermaßen als Religionsersatz benutzt wird. Das kann man von Ihrer Musik ja nicht sagen…
Bei Arvo Pärt ist der Anspruch, eine tief religiöse Tradition fort zu führen, also alles, was sich in der Zwischenzeit entwickelt hat, fort zu blasen und eine reduzierte Schönheit zu finden, die dann sozusagen das Sakral-Religiöse in direkter Weise übersetzt, eins zu eins. Nach meiner Meinung ist diese Pseudomystik in unserem Jahrhundert eine ziemlich verderbliche Angelegenheit, Religionsersatz, wie Sie sagen, aber eben nur Ersatz. Ich behaupte sogar, zwischen Pseudomystik und wirklicher Mystik besteht ein extremer Gegensatz, das eine ist das Gegenteil vom anderen und das stiftet dann einige Verwirrung.

Ist in Ihrer geistlichen Musik das Religiöse das stärkere Anliegen oder das Sozialkritische?
Das könnte ich nicht so trennen. Ich kann nicht unbedingt eine Differenz feststellen zwischen dem einem und dem anderen, und dem Sinne bin ich auch stark von der Theologie der Weltbefreiung geprägt. Es ist in all meinen Werken etwas von beiden Seiten vorhanden, auch in der rein instrumentalen Musik, und es sind immer Verknüpfungen und Brücken, die ich suche. Eigentlich arbeite ich immer daran, über die Analogien Brücken zu schlagen. Ich kann mir eigentlich eine Kunst ohne Analogien nicht vorstellen. Meine Kreativität funktioniert über Analogien, aber das ist etwas, was man im gesamten Kosmos, in der gesamten Schöpfung feststellen kann.

Man hat Ihnen doch einmal vorgeworfen, Sie seien doch ein sehr, sehr ausgeprägter Individualist, auch wenn Sie später mit Akzenten wie ‘Musica Insieme’ gesagt haben: « Ich öffne mich ».
Was heißt das jetzt mit dem Individualisten? Dass ich in keine Schublade passe? Man kann sagen, ich habe einen gewissen Hang zum Häretiker. Das ehrt mich, denn man hat vielen großen Mystikern die Häresie vorgeworfen. hat und deshalb interessierte mich z. B. der Umgang mit der Serialität bei Zimmermann mehr als bei Boulez. Zimmermann hatte eigentlich die äußersten Facetten des Serialismus auf eine sehr eigenartige hochpersönliche Weise ausgebeutet, aber auch erweitert und es war dann nicht mehr so orthodox eng, sondern eröffnete einen Fächer mit diesen Möglichkeiten, inklusive andere Musiksprachen ein zu beziehen, schon relativ früh, in seinem Trompetenkonzert, wo er sich auf den Blues bezieht, also den schwarzen Jazz, und und damit eine Sympathie zu dieser Menschheit, die eben da in der Strafarbeit landete, hergestellt hat. Es war also eigentlich nicht ein musikästhetisches Prinzip bei ihm, sondern auch eben das Prinzip des Mitleidens, das ihn zu diesen Lösungen führte.

Des Mitleidens oder des Mitgefühls?
Es ist richtig, dass Sie das unterscheiden! Ich meine, es müsste ein Mitleiden sein. Das Mitgefühl kann leicht so einer gewissen Sentimentalität führen oder zu einer oberflächlichen Haltung. In Zimmermanns Musik kann man das nicht finden, man kann Spott finden  oder auch Zynismus, also alles Mögliche, aber kein kitschiges Mitgefühl.

Sie haben vorhin gesagt, Sie möchten mit dazu beitragen, die Musik zu retten. Vor was wollen Sie sie denn jetzt bewahren, wovor wollen Sie sie retten?
Ich sage es jetzt ganz plakativ: Vor dem Untergang! Es gibt schon Tendenzen, die zerstörerisch wirken, einerseits durch die Verflachung, durch die Zerhackung, dass die Substanz keine Rolle mehr spielt, das es virtuelle musikalische Welten gibt, die uns überschwemmen. Paul Sacher wurde einmal in einem Symposium gefragt, ob er  etwas über die Zukunft der neuen Musik sagen könne. Er sprach etwa dreißig Sprachen, er hätte also etwas sagen können, natürlich, aber er meinte nur: « Es tut mir sehr leid, ich kann Ihnen darüber eigentlich überhaupt nichts sagen. Und wenn ich etwas sagen könnte, so wäre es sowieso irrelevant, denn in fünfzig Jahren wird die Menschheit nicht mehr hören, sondern taub sein! » – und das war vor fünfundzwanzig Jahren. Also, dass die Ohren kaputt gehen könnten, das gehört auch zu den Gefahren dieser selbstzerstörerischen Entwicklung, die das Humanum gefährdet.

Was tun Sie denn eigentlich mit Ihren Ohren, was hören Sie an Musik?
Ich höre nicht immer Musik, aber wenn ich mit etwas anhöre, dann höre ich sehr konzentriert zu. Ich höre sehr selektiv, aber es sind die verschiedenste Musikkulturen, die mich interessieren. Ich kenne wohl einiges besser, tiefer, aber ich möchte gerne alles noch sehr viel besser kennen. Selbst wenn ich mich über Mozart beuge, bleibt mir doch vieles ein Enigma und gerade das reizt mich, mich mit Mozart zu beschäftigen. Das ist eine unermessliche Welt, die uns noch offen steht und die es zu verteidigen gilt.

Wie tut man das am besten?
Ich möchte die Musik in der Weise retten, dass sie ein Anliegen des Menschen wird, der sie dann auch selber macht, und sie selber kommunizieren kann, dass sie nicht zur Einbahnstrasse wird, eben zu einem Manipulationsmaterial degradiert wird.

Ist es nicht trotzdem ein Kampf der schon fast verloren ist?
Er ist schon weitgehend verloren, wobei es noch eine Hoffnung gibt: wenn über das Internet engere und schnellere Verknüpfungen möglich sind, könnte man einen gewissen Einfluss haben.

Geht das noch, angesichts der Tatsache, dass die Leute von vielen Medien, die auf der unteren Niveauschiene fahren, für dumm verkauft werden?
Es müssten die Medien analysiert werden, damit man ihnen die Lügen nachweisen kann. Es ist sozusagen eine Entgiftung der Medien notwendig. Man muss jetzt eine ökologische Medienlandschaft schaffen.

Aber gerade diese Sorte von Massenmedien sind doch die neuen Götzen, denen alle huldigen…
Wissen Sie, ich glaube irgendwo bleibe ich ein Utopist. Ich glaube an konkrete Utopien. Ich glaube, solange wir nicht total resignieren gibt es immer irgendwo eine Nische, wo Hoffnungen aufblühen können. Ich kann nicht für mich selber sagen, es sei alles verloren, denn wenn ich das sagen müsste, so würde ich wahrscheinlich aus dieser Welt gehen, ich möchte dann nicht mehr hier Verbraucher sein.

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