
Für manche ist Wilhelm Furtwängler der größte Dirigent des zwanzigsten Jahrhunderts. Doch er sah sich als junger Mann in erster Linie als Komponist. Aber das Komponieren brachte ihm keinen Erfolg ein. Mit dem Dirigieren sorgte er für den Lebensunterhalt.
Mitte der 1930-er Jahre, als Furtwänglers eigene Position zunehmend prekärer wurde, begann er erneut zu schreiben. Das waren das kolossale Klavierquintett sowie zwei Violinsonaten, die beide weit über fünfzig Minuten lang sind. Und es entstanden vier immense Orchesterwerke. Man mag annehmen, dass gerade in Krisenzeiten das Komponieren zu einem Zufluchtsort wurde. Als Furtwängler erfuhr, dass er von der Gestapo verhaftet werden sollte, floh er nach einem Konzert mit den Wiener Philharmonikern im Januar 1945 in die Schweiz. Dort begann er mit der Arbeit an der Partitur der Zweiten Symphonie.
Auch bei ihrer Länge von 75 Minuten bietet diese einen beinahe nahtlosen melodischen Fluss. Ein Gefühl der Verzweiflung zu Beginn ist aus dem klagenden, fallenden Motiv zu hören, aus dem sich mehrere der nachfolgenden Ideen ableiten, auch das hoffnungsvollere Dur-Thema ganz am Ende. Wie in seinem Dirigieren zeigt das Werk ein leidenschaftliches, getriebenes lineares Denken. Bei allem bleibt die Musik bis zu dem formelhaften Ende rückwärtsgewandt.
Neeme Järvi und das Nationale Symphonieorchester Estland durchdringen diese Weiten mit ausgeprägtem Engagement. Sie widmen sich der ausufernden Gestaltung mit Formungswillen. Dabei gelingt es ihnen, mit der Durchdringung der Materie eine das Verständnis fördernde Interpretation zu schaffen. Denn es fehlt dem Werk an markanten und einprägsamen Themen wie sie von Beethoven, Brahms oder Bruckner bekannt sind. Und die überbordende Größe verhilft nicht zu einem leichteren Verständnis. Die Interpreten machen aber die lineare Technik beeindruckend mit ihrem durchdachten Ansatz deutlich. Dann mag man das Werk als spirituellen Lebensweg hören, oder auch als Kampf und Ausbruch aus den Zwängen und den Ängsten, denen Furtwängler in den Jahren zuvor ausgesetzt war.
For some, Wilhelm Furtwängler is the greatest conductor of the twentieth century. But as a young man, he saw himself first and foremost as a composer. But composing did not bring him success. Conducting was how he made a living.
In the mid-1930s, when Furtwängler’s own position became increasingly precarious, he began to write again. These were the colossal Piano Quintet and two violin sonatas, both of which are well over fifty minutes long. And he wrote four immense orchestral works. One might assume that it was precisely in times of crisis that composing became a place of refuge. When Furtwängler learned that he was to be arrested by the Gestapo, he fled to Switzerland after a concert with the Vienna Philharmonic in January 1945. There he began work on the score of the Second Symphony.
Even at its length of 75 minutes, it offers an almost seamless melodic flow. A sense of despair at the beginning can be heard from the plaintive, falling motif, from which several of the subsequent ideas are derived, including the more hopeful major theme at the very end. As in his conducting, the work displays passionate, driven linear thinking. For all that, the music remains backward-looking until the formulaic ending.
Neeme Järvi and the Estonian National Symphony Orchestra penetrate these vast expanses with great commitment. They devote themselves to the sprawling design with a will to shape. In doing so, they succeed in creating an interpretation that promotes understanding by penetrating the material. The work lacks the striking and memorable themes familiar from Beethoven, Brahms or Bruckner. And the exuberant grandeur does not make it any easier to understand. However, the performers make the linear technique impressively clear with their well thought-out approach. The work can then be heard as a spiritual journey through life, or as a struggle and escape from the constraints and fears to which Furtwängler had been exposed in previous years.