Am 3. November feiert der G. Henle Verlag in München seinen 75. Geburtstag. Der Verlag hat eine Spezialität: Urtext-Ausgaben. Wie es dazu kam schildert dieser Beitrag.

Es war nur ein kleines Kreuzchen vor dem G in Takt 218, das ihn schon immer störte: Warum steht hier Gis und nicht G? Yehudi Menuhin nahm die Stelle im 4. Satz von Beethovens Violinsonate op. 96 hin, wie sie überall gedruckt war. Doch nachdem der G. Henle Verlag seine Urtextausgabe der Sonate publiziert hatte, war Menuhin erlöst. Der schrieb am 28. April 1956 an Günter Henle: »Es ist G! Bravo, und Tausend Dank!« Die Verlagsgründung des G. Henle Verlags 1948 glich einem Meilenstein: Die taubenblauen Notenausgaben veränderten das Musikverlagswesen nachhaltig.

Seit nunmehr 75 Jahren erscheinen im G. Henle Verlag sogenannte Urtextausgaben. Sie basieren auf wissenschaftlich textkritischen Untersuchungen aller verfügbaren Quellen und versuchen, der Intention des Komponisten so nahe wie möglich zu kommen. Günter Henle, nicht nur Diplomat, Politiker und Unternehmer, sondern auch hochambitionierter Laien-Pianist hatte den Verlag gegründet, weil er mit den Notenausgaben seiner Zeit höchst unzufrieden war. Er schrieb: »Sie waren vielfach mit Vortragsbezeichnungen aller Art so überladen, dass manches Werk in seiner Urgestalt unter dem Gestrüpp editorischer Zutaten kaum mehr zu erkennen war.« Seine Ausgaben hingegen sollten nicht nur höchsten quellenkritischen Ansprüchen genügen, sondern auch »äußerlich in einem hübschen Gewande dem Musikfreund dargereicht werden«.

Bereits Verlagsgründer Günter Henle pflegte intensive Freundschaften zu Künstlern und Musikern u.a. zu Yehudi Menuhin, Rudolf Serkin und Arthur Rubinstein, und konnte viele bekannte Namen als Herausgeber von Urtextausgaben gewinnen. So übernahm beispielsweise Walter Gieseking die Herausgabe und die Einrichtung der Fingersätze für Franz Schuberts Impromptus und Moments musicaux (der erste Henle-Band überhaupt neben Mozarts Klaviersonaten), für César Francks Violinsonate A-Dur konnte 1975 Yehudi Menuhin gewonnen werden. Die Neuerscheinungen aus jüngerer Zeit zieren Künstlernamen wie Evgeny Kissin, Murray Perahia, András Schiff, Heinrich Schiff, Tabea Zimmermann und Frank Peter Zimmermann.

Heute ist der G. Henle Verlag weltweit Marktführer für Urtext-Ausgaben, sein Exportanteil liegt bei über 70 Prozent. Größte Märkte sind die USA, Deutschland, Frankreich, Japan und Korea. Und: Von Jahr zu Jahr lieben immer mehr chinesische Musiker die blauen Urtextausgaben. Der Katalog umfasst etwa 1 500 Ausgaben. Das mittlerweile komplett digitalisierte Lektoratsarchiv zählt rund 40 000 Quellen und ist damit eines der weltweit größten in privatem Besitz.

Im Jahr 1972 gründete Günter Henle die ‘Günter Henle Stiftung’, in die er den Verlag einbrachte. Die Stiftung darf keine Ausschüttungen vornehmen. Der Verlag verfügt damit über einen entsprechenden Handlungsspielraum und eine für die Zukunft gesicherte Grundlage.

Auch im Bereich der Digitalisierung leistet der Verlag Pionierarbeit: Die Henle Library App avancierte innerhalb kürzester Zeit zum weltweit beliebtesten Programm für digitale Notenliteratur mit ca. 70 000 aktiven Nutzern. Anfang des Jahres folgte die Henle Masterclass, eine Video-Tutorial-Lernplattform, auf der Klassik-Künstler ausgewählte Werke unterrichten.

Felix Henle, Vorsitzender der Günter Henle Stiftung hebt hervor: »Die Familie ist stolz auf das Lebenswerk und das geistige Erbe von Günter Henle. Sie engagiert sich bereits in der dritten Generation mit Freude im Vorstand der Stiftung, die Eigentümerin des Verlages ist. Es ist der Familie ein Anliegen, die besondere Verlagsgeschichte in einem von Dr. Tobias Heyl hervorragend geschriebenen Buch zu veröffentlichen.«

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