Maurice Ravel: Sämtliche Orchesterwerke (Daphnis et Chloé, Shéhérazade, Boléro, Le Tombeau de Couperin, Valses nobles et sentimentales, Ma mère l'oye; Fanfare aus L'Eventail de Jeanne, Pavane pour une infante défunte, Menuet antique, Rapsodie espagnole, Alborada del gracioso, La Valse, Klavierkonzert G-Dur, Klavierkonzert D-Dur für die linke Hand; Yuja Wang, Klavier, Ray Chen, Violine, Zürcher Sing-Akademie, Tonhalle Orchester Zürich, Lionel Bringuier; 4 CDs Deutsche Grammophon 4795524; Liveaufnahmen 2014-2015, Veröffentlichung 04/2016 – Rezension von Remy Franck

Der heute 30-jährige Franzose Lionel Bringuier hat für seine erste Produktion mit dem Orchester der Zürcher Tonhalle das Gesamtwerk für Orchester seines Landsmanns Ravel aufgenommen. Dass ihm das in einigen Werken hervorragend gelungen ist, kann nicht bestritten werden. Wenn es nur um Spannung und Kraft ginge, würde Bringuier wohl im Vergleich zu anderen Interpreten den Kürzeren ziehen, und aufs Ganze gesehen habe ich für jedes der gespielten Stücke meine Lieblingsaufnahmen, die diese Einspielungen nicht verdrängen werden. Aber im Detail überrascht Bringuier doch oft genug, um das Interesse kontinuierlich wachzuhalten. Immer wieder kommt es zu Farbkonstellationen, die neuartig wirken, die hier diese Passage, dort jene Phrase in ein neues Licht stellen. Bringuier hat zweifellos eine Sensibilität, die für anregende Stimmungen sorgt. Dabei geht es ihm offensichtlich nicht so sehr ums Detail, sondern um die Formung eines Gesamtklangs. Er reißt nicht auseinander, detailliert nicht, ohne wieder alles sorgfältig zusammen zu fügen.

Gleich in ‘Shéhérazade’, dem ersten Werk auf der ersten CD, führt das zu einem opulenten Klang mit zum Teil fiebrigem Elan. Die vielleicht enttäuschendste Aufnahme ist die von ‘Tzigane’, in der der Geiger Ray Chen sehr vorbereitet und wenig inspiriert wirkt. Dem sehr farbigen und sehr lebendigen ‘Tombeau de Couperin’ fehlt es für meinen Geschmack an Eleganz und Charme. Im recht roh klingenden ‘Boléro’ hat die Tontechnik die kleine Trommel zu sehr in den Vordergrund gestellt.

Sehr enttäuschend ist das C-Dur-Konzert, dessen rein virtuose und vor allem im Klavier nicht genügend differenzierte Interpretationen weitab von den besten Einspielungen des Konzert zu situieren ist. Schade, dass Yuja Wang so wenig inspiriert spielt und sich auf Rhythmik und Fingerfertigkeit konzentriert, denn im Orchester gibt es durchaus immer wieder Passagen, in denen man aufhorcht.

Wieder allein mit seinem Orchester zeigt sich Lionel Bringuier als exzellenter Ravel-Dirigent in den prächtig und sehr flexibel gespielten ‘Valses nobles et sentimentales’: das ist ein wogendes Meer von Farben. Nicht weniger faszinierend ist die Aufführung von ‘Ma Mère l’Oye’, in der Bringuiers Kunst, analytisch einen kohärenten Gesamtklang zu produzieren, beispielhaft gezeigt wird. Die märchenhafte Stimmung der Musik kommt dabei mit einem seltenen Raffinement und mit viel schwungvoller Eleganz zum Ausdruck. Eine hinreißende Interpretation!

Auf der dritten CD gefallen die stimmungsvolle ‘Pavane’, die sehr farbige und atmosphärische ‘Rhapsodie espagnole’ sowie ein in seiner Rhythmik und seinen Farben großartiges, wenn auch manchmal vielleicht etwas lautes ‘Alborada del gracioso’.

Im Konzert für die linke Hand finden Bringuier und Yuja Wang besser zusammen. Zum einen fasziniert die Klangchemie des Dirigenten, zum anderen wartet die Pianistin ebenfalls mit einem differenzierteren Spiel auf. Es gibt in dem Konzert wunderbar intimistische Klänge, die mit höchster Virtuosität alternieren, wo Wang es fertig bringt, mit Farben und Schattierungen interessante Effekte zu produzieren.

Die CD endet mit einer klangmalerisch hervorragend gearbeiteten ‘Valse’. Die Farbmischungen sind ebenso aufregend wie die dramaturgische Gestaltung.

Die vierte CD enthält die Gesamtaufnahme des Balletts ‘Daphnis et Chloé’. Nach Nézet-Séguins elektrisierender Einspielung,  Philippe Jordans sehr narrativer Version und Stéphane Denèves sensueller Interpretation kann Bringuier nicht wirklich überzeugen. Die Orchestertexturen sind nicht besonders raffiniert und flexibel, es fehlt hier und da an Spannung oder Erregung, und die Stimmungen werden nicht immer deutlich genug herausgearbeitet.

Zusammenfassend kann man also sagen, dass diese Ravel-Box etliche sehr gute und auch weniger zufriedenstellende Aufnahmen enthält, insgesamt aber zu unausgeglichen ist, um eine Empfehlung zu verdienen.

There is much to praise in Lionel Bringuier’s Ravel performances, but some weaker interpretations make the entire production uneven.

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