Der israelische Pianist Boris Giltburg (*1984), Reine-Elisabeth Gewinner und Naxos-Exklusivkünstler, ist einer der aufstrebenden Musiker unserer Zeit. Pizzicato-Mitarbeiter Alain Steffen hat sich mit ihm unterhalten.

Boris Giltburg

Im Jahr 2013 haben Sie den renommierten ‘Reine Elisabeth’ Wettbewerb in Brüssel gewonnen. Was hat sich seither für Sie verändert?
Mein Lebensrhythmus hat sich komplett verändert. Die Zeit nach dem Wettbewerb war durch die vielen Konzerte und neuen Eindrücke eine regelrechte Herausforderung, und das sowohl in künstlerischer wie auch persönlicher Hinsicht. Der Erste Preis beim ‘Reine Elisabeth’ bedeutet mir sehr, sehr viel, weil auch meine größten musikalischen Helden Oistrach und Gilels ihn gewonnen haben. Aber auch der Publikumspreis hat für mich eine enorme Wichtigkeit, da ich ja als Musiker für das Publikum spiele und es erreichen will. Beide Auszeichnungen sind für mich eine Bestätigung dafür, dass der künstlerische Weg, den ich eingeschlagen habe, der richtige ist.

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Boris Giltburg

Stimmen die Resultate internationaler Wettbewerbe eigentlich mit der Realität überein? Es gibt so viele Gewinner, die keine Karriere gemacht haben und viele, die auch ohne Wettbewerbe auf internationalen Bühnen Fuß gefasst haben.
Ich betrachte den Gewinn eines Wettbewerbs heute eher als eine Chance, die einem Musiker gegeben wird, denn als Freikarte für eine internationale Karriere. Gerade durch solch einen Wettbewerb erhalten junge, aufstrebende Musiker die Gelegenheit, weltweit in den wichtigen musikalischen Zentren zu spielen und dort von vielen Leuten auch gehört zu werden. Somit besteht der Reiz der Herausforderung nicht im Gewinn des Wettbewerbs, sondern in dem Weg, der danach kommt, den ich als Musiker einschlagen und gehen will. Und jedes Konzert ist dabei ein Meilenstein, aus dem man seine Lehren ziehen kann und auch soll.

Vor diesem Wettbewerb hatten Sie aber schon regelmäßig mit bekannten Orchestern und Dirigenten gearbeitet. Auch damals stand ein Wettbewerb an Anfang.
Genau, das war der Santander-Wettbewerb im Jahr 2002, der mir die Gelegenheit gab, erste Erfahrungen auf den großen Bühnen zu sammeln und mit international bekannten Orchestern und Dirigenten zusammenzuarbeiten.

Wie schwer ist es eigentlich heute für einen jungen Pianisten, sich international durchzusetzen?
Ich selbst kann das nicht richtig einschätzen, aber es ist eine Tatsache, dass wir jungen Musiker heute sehr viel kämpfen müssen. Aber ich denke, es ist gerade dieser alltägliche Kampf, der uns stärker macht, der uns immer darin erinnert, dass wir unser Bestes geben müssen und uns auf keinen Fall auf unseren Lorbeeren ausruhen dürfen oder gar selbstgefällig werden. Dieser Druck, der auf uns liegt, zwingt uns gerade dazu, uns täglich in Frage zu stellen und unsere Arbeit immer wieder zu hinterfragen. Auch wenn dieser Druck schon manchmal schwer auszuhalten ist, so glaube ich, dass es trotzdem ein guter Weg ist, künstlerisch und musikalisch weiterzukommen und sich zu entwickeln.

In welchem Repertoire fühlen Sie sich am wohlsten?
Ich muss sagen, dass es wohl die russischen und die deutsch-österreichischen Komponisten sind, die mir am meisten am Herzen liegen. Innerhalb dieser beiden Richtungen gibt es eine enorme Repertoireauswahl. Bei den Russen sind das natürlich Prokofiev, Rachmaninov, Shostakovich, Mussorgsky aber auch Scriabin und Tchaikovsky. Und bei den deutschen Komponisten sind es vor allem Beethoven und Schumann, die mich interessieren, sowie Mozart und Schubert. Und als Hörer natürlich Gustav Mahler! Ehrlich gesagt, ich bin eigentlich ein musikalischer Allesfresser, denn ohne Ravel, Gershwin, Liszt, Bartok und so viele andere kann ich auch nicht leben.

Und wie ist in dieser Hinsicht ihr Verhältnis zur zeitgenössischen Musik und ihren Komponisten?
Ich muss zugeben, dass ich sehr wenig zeitgenössische Musik spiele. Es kommt manchmal vor und ich habe sogar verschiedene Premieren gespielt. Aber ehrlich gesagt, mein Repertoire hört momentan mit Shostakovich und Britten auf.

Boris Giltburg

Boris Giltburg

Wie würden Sie die Bezeichnung ‘Interpretation’ bezeichnen?
Interpretation beginnt natürlich mit den objektiven Daten, also der Partitur, der Dynamik, dem Tempo, der Artikulation. Und dann kommt dieser subjektive Teil, und der liegt genau zwischen den Noten. Und es ist dieses subjektive Empfinden, das eine Interpretation dann ausmacht. Es wird geprägt von dem was wir über den Komponisten wissen und was wir über das Werk zu wissen glauben. Von dem, in welcher Weise die Musik zu uns spricht. Interpretation ist auch die Suche, all dies in ein Gleichgewicht zu bringen und das Werk als sogenanntes fertiges Produkt letztendlich auch zu spielen und aufzuführen. Aufführen ist vielleicht nur die halbe Wahrheit, weil sich dieser Begriff auf die objektiven Angaben des Komponisten bezieht. Interpretation ist die andere Hälfte der Arbeit, die Umsetzung dieser Angaben aus der Sicht des Musikers. Und hier gibt es keine Wahrheit, nur Meinungen, Intuition, Herz und Phantasie.

Über das Musikleben in Israel ist hier eigentlich recht wenig bekannt. Wie hat sich die klassische Musik dort entwickelt? Welchen Einfluss hat die politische Situation? Wie sieht es in der zeitgenössischen Szene aus? Welche Rolle spielt in Israel die historische Aufführungspraxis?
Die klassische Musikszene ist in Israel sehr reich, es gibt dort acht oder neun Symphonieorchester und etliche Kammerorchester, sowie sehr viele Kammermusik- und Soloabende. Das ‘Israel Philharmonic Orchestra’ kann in Tel Aviv dasselbe Programm an fünf bis sieben Abenden spielen und immer ist das Mann-Auditorium mit seinen 2.000 Plätzen ausverkauft. Es gibt dort ein sehr herzliches Publikum, das sicherlich nicht das ruhigste ist, aber es ist sehr ehrlich und zeigt offen, ob ihm das Konzert gefällt oder nicht. Natürlich wünschen wir uns alle, dass es etwas jünger wäre, aber das Problem des Alters ist ja nicht nur in Tel Aviv ein Problem. Die historisch informierte Aufführungspraxis ist präsent, führt aber eher ein Nischendasein. Es gibt aber einige Ensembles, die sich auf die historische Art und Weise, Musik zu machen, spezialisiert haben und sogar Renaissance Musik aufführen. Ein Ensemble wie die ‘Israel Camerata’ hat sich dagegen mehr auf Barock-Konzerte spezialisiert.

Welche Pianisten haben Sie persönlich geprägt?
Meine größten Einflüsse, was das musikalische Empfinden, Tiefe und unaffektierte Musikalität betrifft, kommen von Pianisten wie Emil Gilels, Arthur Rubinstein und Grigori Sokolov. Es ist die Noblesse ihres Klanges, die mich immer wieder fasziniert und auch inspiriert. Aber auch Richter, Argerich und Barenboim sind für mich sehr wichtige, ja einzigartige Interpreten, allerdings nicht in jedem Repertoire. Aber es gibt nicht nur Pianisten, die mich inspirieren, Aufnahmen von Wilhelm Furtwängler, Dietrich Fischer-Dieskau, David Oistrach und Sir John Eliot Gardiner liegen ständig in meinem Player.

Wie sehen Sie die Entwicklung der klassischen Musik heute?
Das ist eine schwierige Frage, denn niemand kann voraussehen, wie es in Zukunft um die klassische Musik bestellt sein wird. Es ist heute enorm wichtig, dass wir Musiker auf die Menschen zugehen und versuchen, eine neue Zuhörerschaft zu gewinnen. Da ist natürlich vieles erlaubt und man kann sich das schon etwas Phantasievolles einfallen lassen, allerdings müssen die Musik und der Komponist immer im Mittelpunkt stehen. Man darf nie vergessen, dass in der Musik einige der größten Werke der Menschheit entstanden sind. Diese Musik ist zeitlos, unsterblich und wirkt immer frisch und kraftvoll auf die Menschen, egal, wann man sie erlebt, ob im 19., im 20. Oder im 21. Jahrhundert. Klassische Musik wurde schon so oft für tot erklärt, aber sie hat immer überlebt und zieht nach wie vor viele, viele Menschen an. Ich glaube jedenfalls an die Kraft und die Schönheit der Musik, weil sie viel mehr ausdrückt, als Worte je können und weil sie uns dort erreicht, wo wir am menschlichsten sind: Im Herzen.

Die Rezension von Boris Giltburgs Beethoven CD bei Naxos finden Sie hier.

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