Am vergangenen Osterwochenende ging in Warschau die 19. Ausgabe des Ludwig-van-Beethoven-Osterfestivals (22.03.-03.04.) zu Ende. Mit über 20.000 Besuchern jährlich gehört die Veranstaltungsreihe zu den renommiertesten und größten ihrer Art in Europa. Pizzicato traf Musikpublizist und ICMA- Jury-Mitglied Martin Hoffmeister zum Gespräch über das Aushängeschild der polnischen Klassik-Szene.

Als Musikkritiker und Publizist hat man zwischen Frühling und Herbst allein in Europa gemeinhin die Wahl unter hunderten von kleineren und größeren Klassik-Festivals. Wenn man vergleicht, wenn man dieses vielgesichtige Angebotsspektrum über die Jahre Revue passieren lässt: Wofür steht das ‘Beethoven-Festival’, was veranlasst Sie, Jahr für Jahr in die polnische Metropole zu reisen?
Ich halte es für unangemessen, pauschale Werturteileüber Festivals abzugeben. Vergleichbar sind diese Veranstaltungen wenn überhaupt aus persönlichen Perspektiven und Interessenlagen. Tatsache ist, dass jeder Festivalbetreiber auf Grund unterschiedlicher finanzieller Ressourcen, auf Grund geographischer und nationaler Gegebenheiten oder spezifischer Publikums-Strukturen zu eigenen Lösungen finden muß. Was in den Schweizer Bergen, am Comer See oder in Mecklenburg-Vorpommern funktioniert, muss nicht unbedingt in London, Madrid oder München Erfolge zeitigen. Vor diesem Hintergrund halte ich es für unzulässig, opulente Festivals wie die etwa in Salzburg und Luzern mit, sagen wir, dem ‘Lockenhaus-Festival’ oder den ‘Musiktagen Mondsee’ zu vergleichen. Was allerdings festgehalten werden muss: Bei den finanziell eher gutausgestatteten Veranstaltungsreihen ist eine zunehmende Nivellierung der Angebots-Tableaus auszumachen. Überall dieselben Künstler und Dirigenten, überall eine ähnliche Programmatik. Da wird doch nicht selten eher der Glamour-Faktor bedient, als dass optimale Lösungen im Sinne der Musik gesucht würden. Der Zeitgeist war noch nie eine ernstzunehmende Instanz. Glücklicherweise hat sich in Warschau der allgemeine Marketing-Furor noch nicht verselbständigt und die Musik steht im Mittelpunkt.

Welche übergreifende Idee steht hinter dem ’Beethoven-Festival’?
Ein Festival im Zeichen Beethovens ist selbstredend der europäischen und der humanistischen Idee verpflichtet. Es soll zudem eine Stätte der Begegnung und

Elzbieta Penderecka (c) Bruno Fidrych

Elzbieta Penderecka
(c) Bruno Fidrych

des Austausches sein. Eben dies realisiert Festival-Direktorin Elzbieta Penderecka, indem sie Orchester, Ensembles, Dirigenten und Solisten aus aller Welt nicht nur einlädt, sondern auch mit den zahllosen internationalen Gästen ins Gespräch bringt. In diesem Zusammenhang spielen auch das alljährliche, global besetzte, wissenschaftliche Symposium und die Autographen-Ausstellungen eine wesentliche Rolle.

Welchen Stellenwert haben polnische Orchester und Solisten?
Polen verfügt über ein hochkarätiges Orchestertableau, erstklassige Solisten und eine Reihe legendärer Dirigenten. Denken wir beispielsweise an das Orchester der Nationalphilharmonie in Warschau, das Polnische Nationale Radio-Sinfonie-Orchester Kattowitz, an die ‘Sinfonia Varsovia’, die ‘Sinfonietta Cracowia’ und andere bedeutende Klangkörper, denken wir an Künstler wie die Pianisten Krystian Zimerman oder Rafal Blechacz, an Sänger wie Ewa Podles

Lukasz Borowicz (c) Bruno Fidrych

Lukasz Borowicz
(c) Bruno Fidrych

oder Agnieszka Rehlis, an Dirigenten wie Antoni Wit, Lukasz Borowicz, Jacek Kaspszyk, Kazimierz Kord, Tadeusz Strugalla, Gabriel Chmura oder Jerzy Maksymiuk. Dass diese Persönlichkeiten und Ensembles ihren Platz beim Festival haben, liegt auf der Hand. Wer wirklich an klassischer Musik interessiert ist, der sollte im Übrigen einen Blick werfen auf die polnische Musikszene in ihrer enormen Vielfalt…

…die sich ja auch außerhalb der Hauptstadt durchaus sehen lassen kann…
…Zweifellos. Schauen wir nach Krakau, nach Breslau, Kattowitz, Danzig oder Stettin, das polnische Musikleben pulsiert, viele neue, aufsehenerregende Konzertsäle entstanden in den vergangenen Jahren im ganzen Land, weshalb das Beethoven-Festival mittlerweile auch regelmäßig Gastspiele in andere Städten durchführt.

Gegründet wurde das Festival in Krakau. 2004 übersiedelte man nach Warschau. Braucht ein Festival diesen Zuschnitts die hauptstädtische Infrastruktur?
Ohne Frage gehört Krakau zu den Juwelen unter den europäischen Metropolen, ausgestattet mit einem lebendigen Kulturleben und zahllosen architektonischen Kleinodien. Krakau, das bedeutet: Gegenwart von Geschichte auf sämtlichen Ebenen. Dennoch bietet eine Millionenstadt wie Warschau mit Regierungssitz, dichter kultureller Infrastruktur und optimalen Spielstätten wie etwa der Nationalphilharmonie oder dem Schloss umfassendere Möglichkeiten und mehr Flexibilität für ein international aufgestelltes Festival. Wesentlich für die Veranstalter ist selbstverständlich auch die größere Nähe zu potentiellen Sponsoren.

Warschau war in den vergangenen zwei Jahrzehnten extremen städtebaulichen Metamorphosen unterworfen. Wirken sich solche äußeren Faktoren auf den Festival-Betrieb aus?
Davon ist auszugehen. Gerade Festivalgäste aus dem Ausland schätzen die konsistente Aura einer Stadt, nutzen touristische Potentiale und wollen flanieren. Vor diesem Hintergrund hat sich Warschau ungemein entwickelt. Da finden sich avancierte zeitgenössische Architektur, die stilvoll wiedererrichtete Altstadt samt Schloss und gepflegte Parkanlagen ebenso wie Cafés, Restaurants und Museen, das Ganze eingebettet in eine sehr urbane, weltoffene Atmosphäre. Tradition und Moderne stehen in angenehmer Balance.

Stichwort ‚Tradition und Moderne’: In diesem Jahr ging die 19. Ausgabe des Festivals über die Bühne(n). Wieviel Moderne resp. zeitgenössisches verträgt denn eine Veranstaltungsreihe, die unter dem Namen Beethovens firmiert?
Ich konnte in den letzten zwei Jahrzehnten keine Berührungsängste mit zeitgenössischen Werken wahrnehmen. Warum auch: Beethoven selbst stand ja wie kaum ein zweiter Komponist für Neuerungen und Grenzüberschreitungen. So liegt zwar der programmatische Kern des Festivals im Werk Beethovens, allerdings fordert eben gerade dieses Werk auch, musikgeschichtliche Verbindungslinien und Bezüge aufzuzeigen, so dass das Tableau neben dem Beethovenschen Oeuvre sinnfälligerweise auch Werke des Barock, des 19., 20. Und 21. Jahrhunderts integrieren kann. Da entstehen dann inspirierende Spannungsfelder.

Sie hatten anfangs eine gewisse Sonder- bzw. Ausnahmestellung des Festivals angedeutet. Was bedeutet das konkret. Worin liegt für den Besucher des Beethoven-Festivals ein möglicher Mehrwert?
Beginnen wir beim Protagonisten! Ich kenne kein zweites Festival, das einem eingehendere Einblicke in das Gesamtwerk des Komponisten geben könnte. In Warschau kommen ja nicht nur die bekannteren Werke Beethovens zur Aufführung, sondern auch Marginaleres oder selten Gespieltes. Das zum einen. Zum anderen: Wenn man innerhalb von zwei Wochen gleich mehrere Sinfonien, Klavierkonzerte oder Streichquartette von verschiedenen Interpreten geboten

Martin Hoiffmeister zusammen mit Vasily Petrenko (c) Bruno Fidrych

Martin Hoffmeister zusammen mit Vasily Petrenko
(c) Bruno Fidrych

bekommt, lebt man in einer steten Vergleichssituation. Genau darin besteht der eigentliche Distinktionsgewinn. Auch was die Orchester, Dirigenten und Solisten angeht, steht das Festival für eigene Wege: Wo sonst hat man Gelegenheit das ‘Korean Chamber Orchestra’, den ‘Hover State Chamber Choir of Armenia’, ‘Boston Baroque’ oder das ‚Orchester der Beethoven-Akademie Krakau’ zu hören. Welche anderen europäischen Reihen präsentieren zudem gleich mehrere Jugend- bzw. Nachwuchs-Orchester in ein und demselben Jahrgang. Schließlich kann man sich in Warschau einen repräsentativen Überblick verschaffen von Qualität und Potential der nationalen Orchesterszene, denn nur wenige wie etwa das Polnische Nationale Radio-Sinfonieorchester Kattowitz touren regelmäßig im Ausland. Nicht zuletzt darf man sich in Warschau auch überraschen lassen von originären Exegesen international renommierter Künstler wie Jiri Belohlavek, Leonard Slatkin, Alexander Liebreich, Vasily Petrenko, Kristjan Järvi, Rudolf Buchbinder, Simon Trpceski , Camilla Tilling oder Janina Baechle.

19 Konzerte in 13 Tagen allein Warschau. Welche Konzerte haben Sie in besonderer Erinnerung?
Herauszuheben sind gewiss die beiden Abende – Auftakt und Finale – mit dem ‘Polnischen Nationalen Radio-Sinfonieorchester Kattowitz’. Zunächst dirigierte Leonard Slatkin ein Programm mit Brahms’ Doppelkonzert und Mahlers 4. Sinfonie. Da vermochten nicht nur die drei Solisten Sayaka Shoji, Danjulo Ishizaka und Camilla Tilling mit Engagement, Präzision und klanglichem Nuancenreichtum für sich einzunehmen, sondern insbesondere auch das überlegene Dirigat Slatkins, für den Transparenz und Ausdruck, Detailausleuchtung und die Gestaltung großer Bögen keine Gegensätze zu sein schienen.
Beispielhaft gleichermaßen der Abend mit Alexander Liebreich am Pult. Mit Mahlers ‘Kindertotenliedern’, Brahms’ selten aufgeführtem ‘Schicksalslied’ op. 54

Alexander Liebreich (c) Bruno Fidrych

Alexander Liebreich
(c) Bruno Fidrych

und Pendereckis ‘Dies illa’ führte er ‘sein’ Orchester zu exzellenter Spielkultur, lotete sowohl dynamische Schattierungen wie Lautstärke- und Farben-Spektrum bis an die Grenzen aus und stellte sich damit mit äußerster Sensitivität in Korrespondenz mit Solistin und Chor. Wieder einmal erwies sich das Ensemble aus Kattowitz als führender Klangkörper des Landes. Tief bewegend ebenso der Liederabend mit der Mezzo-Sopranistin Janina Baechle und ihrem Begleiter Markus Hadulla. Selten einmal vernimmt man ein vergleichbares Einvernehmen unter Akteuren. Baechle wußte mit beweglicher Stimme stets die wechselnden Stimmungen und Nuancen ihres dunkel eingefärbten Repertoires nachzuzeichnen. Der melancholisch-halluzinatorische Kosmos der einschlägigen Brahms- und Mahler-Lieder wurde auf beklemmend suggestive Weise real. Nicht zu vergessen Vasily Petrenkos magisch in Szene gesetzte erste Sinfonie Mahlers mit dem ‘Orchester der Beethoven-Akademie Krakau’, bei der das Nachwuchs-Ensemble zum Niveau eines europäischen Spitzenorchesters fand und Simon Trpceskies filigran tarierte Lesart des 3. Rachmaninov-Konzertes. Die enormen technischen Herausforderungen des Werkes erschienen unter den Händen des mazedonischen Pianisten ins Luftig-Spielerische transzendiert.

Ein Festival also zwischen Tradition und Avantgarde, zwischen Konvention, originärem Zugriff und Überraschungen, ein Festival auch, das nicht getrübt zu sein scheint von den Zumutungen des Betriebs. Wie wurden die Konzerte vom Publikum angenommen?
Trotzdem das Klassik-Angebot in Warschau wirklich opulent ist, waren die Konzerte überwiegend ausverkauft. Bis auf wenige Ausnahmen reagierte das Publikum emphatisch. A propos Publikum: Was ich immer wieder bemerkenswert finde, ist die Publikums-Struktur. In Warschau sieht man außerordentlich viele Kinder und Jugendliche in den Konzerten, da herrscht ein umfassendes Interesse an klassischer Musik jeglicher Provenienz. Kultur, insbesondere aber Musik fungieren als wesentliche Elemente der polnischen Identität. Man wünscht sich mehr von solcher Haltung, mehr von solchem Selbstverständnis auch in anderen Teilen des Kontinents.

Im kommenden Jahr feiert das Beethoven-Festival sein 20-jähriges Bestehen. Was dürfen wir erwarten?
Unter der Überschrift ‘Beethoven und neue Wege’ hat Festivaldirektorin Elzbieta Penderecka ein ausgesuchtes Programm zusammengestellt. Eindrücklich auch die Liste der geladenen Gäste, darunter die Dirigenten Paavo Järvi, Philippe Herreweghe, Alexander Liebreich und
Lionel Bringuier ebenso wie die Solisten Julian Rachlin, Xavier de Maistre, Yefim Bronfman, Martin Grubinger, Gabor Boldoczki, Bernarda Fink, Diana Damrau oder Thomas Hampson.

Informationen zum Ludwig-van-Beethoven-Osterfestival (12.03.16 – 25.03.16) unter: www.beethoven.org.pl.

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