Mit dem ‘Ludwig-van-Beethoven-Oster-Festival’ inszeniert Elzbieta Penderecka seit fast zwei Jahrzehnten eine Veranstaltungsreihe, die, jenseits austauschbarer Programmatik, berechenbaren Starrummels und Konzessionen an den Zeitgeist, kompromisslos den vor fast zwei Jahrzehnten erfolgreich eingeführten Konzepten folgt. Wer die Konzerte des Festivals besucht, soll nicht nur das vielgesichtige Oeuvre des Namenspatrons Beethoven in profilierten Lesarten mit renommierten Interpreten vernehmen, sondern auch einen Eindruck erlangen von der enormen Substanz der polnischen Musikszene mit ihrer Vielzahl hochkarätiger Ensembles, Orchester und Solisten.
Darüberhinaus unterstützt das Festival seit jeher die Karriere junger Musiker, wartet mit inspirierenden Symposien und Autographen-Ausstellungen auf, überrascht mit unerwartetem Repertoire und selten aufgeführten Preziosen ebenso wie sie den wichtigsten internationalen Künstlern und Klangkörpern ein Forum bietet. Am Oster- Wochenende ging das zweiwöchige Festival mit einem erlesenen Werke-Tableau zu Ende.
Zu den begehrtesten Standards des Festival zählen seit einigen Jahren (konzertante) Aufführungen mehr oder weniger unbekannter Opern. Nach Cherubinis ‘Lodoiska’, Spohrs ‘Berggeist’ und von Weberns ‘Euryanthe’ kam im aktuellen Jahrgang Glucks ‘Iphigenie auf Tauris’ zur Aufführung und damit eines der bewegendsten Paradigmen dramatischer Opern-Kunst.
1779 an der Pariser Oper uraufgeführt, behandelt das Werk – nach Vorlagen aus der griechischen Mythologie – das Schicksal der Kinder Agamemnons. Selten einmal im einschlägigen Genre wurden vergleichbar existentiell und grundsätzlich Schicksale beleuchtet, kaum einmal zuvor härter Abgründe, Exzesse, Wahnsinn, Leidenschaften, aber auch, als philosophische Dimension, Glück und Nachsicht zum Ausdruck gebracht. Dem breiten Spektrum menschlicher Emotionen folgt eine Musik, die, zwischen zarter Einlassung und wuchtigem Zugriff oszillierend, ihre Suggestivkraft aus wechselnden, kontrastgesättigten wie sich verdichtenden Klang-Tableaus bezieht. Glucks kompositorisches Augenmerk galt stets der Authentizität, der wahrhaftigen Abbildung von Gefühlen. Im dramatisch aufgeladenen Vierakter führt er seine Vorstellung zur Perfektion.
Protagonisten der Aufführung waren, wie in den Vorjahren, der polnische Dirigent Lukasz Borowicz, das polnische Radio Orchester, der polnische Radiochor und Solisten, die Penderecka in Kooperation mit der ‘Yale School of Music’ verpflichtete. Neben dem sehr ausgeglichenen und auf hohem Niveau agierenden Sänger-Ensemble, war es einmal mehr das von Borowicz mit Übersicht geführte, fabelhaft aufspielende Orchester und der ausgesprochen homogen agierende Chor, die für sich einnahmen.
Borowicz lässt niemals pauschal musizieren; er vermag Klangfarben auszuleuchten, ebenso wie dynamische Schattierungen aufzufalten, ohne die (durchgängig) schlanke Tongebung und Durchsichtigkeit aufgeben zu müssen. Normalerweise zu diskutieren, wäre im Fall dieser Gluck-Oper der Einsatz eines ‚historisch-informierten’ Ensembles. Nicht so an diesem Abend. Durch straffes, entschlacktes und forciertes musizieren, lässt Borowicz solche Überlegungen obsolet werden. Wer sich von der Güte der Aufführung überzeugen möchte, kann dies mittels einer in Kürze erscheinenden CD-Box tun.
Wie sehr sich das Festival auch der Nachwuchsförderung verpflichtet sieht, zeigt das alljährliche Projekt mit dem ‘Beethoven Academy Orchestra’, das die besten Musiker der Krakauer Musik Akademie und anderer europäischer Musikhochschulen und Konservatorien versammelt und regelmäßig mit renommierten Dirigenten und Solisten kooperiert. Was das Orchester zu leisten vermag, belegt, neben der ausgereiften und organischen Spielkultur, insbesondere die Repertoire-Auswahl. Hätte man bei einem Nachwuchs-Ensemble eher Standard-Werke im Konzertplan vermutet, so wartete das Orchester unter der Leitung des venezolanischen Dirigenten Christian Vasquez in der Warschauer Philharmonie mit einer durchaus komplexen ‚Programmierung’ auf.
Bereits das eröffnende Violinkonzert des 1991 gestorbenen Exilpolen Andrzej Panufnik mit seinen originären Klangtableaus zwischen asketischer Instrumentierung, Lyrismen und Anklängen an die Folklore seiner Heimat, vermittelte einen nachhaltigen Eindruck vom Potential des Ensembles, das unter den Händen von Vasquez den enigmatischen Linien der Partitur präzise und mit Sinn für Nuancen nachzuspüren wusste und damit der beweglich und klangschön aufspielenden Solistin Tai Murray ein ebenbürtiges Gegenüber war. Deutlich von Kontrasten, von Klangsensualismus und Intensität gezeichnet, gab sich Pendereckis nachfolgendes episodisch-erzählerisch angelegtes Doppelkonzert für Violine und Viola, das Elina Vähälä und Arto Noras in der Fassung für Violine und Violoncello darboten. Auch in diesem Fall konnten sich die differenziert agierenden Solisten auf die Übersicht des Dirigenten verlassen. Nachdem Vasquez sich im ersten Konzertteil als ‘Diener’ der Partituren verstanden hatte, schien im zweiten Teil eine gewisse Übermotivation zu dominieren. So schien seine Lesart von Beethovens 3. Sinfonie (Eroica) bisweilen überschattet zu sein von allzu forcierter Gangart. Dynamische Kontraste wurden übertrieben ausgestellt ebenso wie die Tempi bisweilen die Grenzwerte deutlich überschritten. Die Folge: Abstimmungs-Probleme im Orchester und Defizite bei der Akzentuierung. Dennoch – im Ganzen – ein eindrücklicher Abend!
Beispielhaft für die unkonventionelle und Erkenntnis(se) zeitigende Dramaturgie des Festivals nahm sich ebenfalls der Abend mit dem Nationalen polnischen Rundfunk Sinfonieorchester Kattowitz und der Camerata Silesia unter der Leitung von Alexander Liebreich aus. Beethovens 2. Sinfonie gepaart mit Palestrinas ‘Stabat Mater’ und Schnittkes Faust-Kantate ‘Seid nüchtern und wachet…’: Ein, im besten Sinne, verrücktes Programm – eine Hommage zudem an die Repertoire-Nische – das ein Publikum zunächst ratlos, am Ende jedoch enthusiastisch stimmte. Beethovens Zweite steht im Ranking der am meisten aufgeführten Sinfonien des Meisters nicht eben auf den vorderen Plätzen. Liebreich nahm das dynamisch aufgeladene, von Esprit und zahllosen originären Einfällen gezeichnete Werk schlank, pulsierend und transparent. Dermaßen strukturiert und luzide wurden Klangströme und Linien moduliert, dass sich vor dem ‘geistigen Auge’ des Publikums die Partitur aufzublättern scheint. Im Zeichen des Beethovenschen Kosmos erwuchs nichts weniger als – um es als Paradoxon zu formulieren – beseelte Abstraktion: Ein perfektes Entree zu den nachfolgenden, licht-demütigen Klangwelten von Palestrinas ‘Stabat Mater’, so schlicht wie ‚innerlich’ vorgetragen von der perfekt eingestellten ‘Camerata Silesia’.
Wer sich nach diesem kontemplativen Zwischenspiel ‘heilig nüchtern’ (Hölderlin) gestimmt sah, wurde mit Schnittkes selten aufgeführter Kantate ‘Seid nüchtern und wachet…’ in die Abgründe ‘faustischer’ Gedankenwelten geschickt, in einen wüsten Cocktail heterogener Idiome aus E- und U-Musik, aus Elementen unterschiedlicher Epochen und Stile; in eine postmoderne Mixture genialischer Einfälle, die nichts weniger als eine Existenz zwischen Himmel und Hölle ausleuchten. Schnittke versteht sich auf Klangmalerei und Verdichtungen. Mit einer jederzeit originellen Instrumentierung und selten verwendeten Instrumenten (Vibraphon, E-Gitarre, Celesta etc.) vermag der Komponist, ungehörte Orchester-Farben und Effekte zu kreieren, einen suggestiven Klangkosmos, der einen erst mit dem letzten Ton aus seinem ‘Netz’ entlässt. Liebreichs hervorragend aufgelegtes Ensemble und vier Vokalsolisten (Margarete Joswig, Artur Stefanowicz, Markus Schäfer, Krzystof Szumanski) profitierten auch in solchen Zwischenwelten von Übersicht, Konzentration und geschärftem Intellekt des Dirigenten. Ein in jeder Hinsicht denkwürdiges Konzert.
Fazil Say gilt als einer der aufregendsten Virtuosen der internationalen Szene. In der Dreifach-Rolle als Pianist, Komponist und Improvisator sprengt er auf natürliche Weise die üblichen Kategorien, so dass seine Konzerte immer auch das Versprechen auf Kurzweil implizieren.
Für sein Rezital in der Warschauer Philharmonie hatte Say zwei Beethoven-Sonaten (op. 27 Nr. 2, op. 111) und eigene Kompositionen (‘Ballads’, ‚’Jazz Fantasies’ u.a.) ausgewählt. Außer Frage steht auch nach diesem Konzert: Say ist ein exzellenter und mit allen Wassern gewaschener Pianist, seine Technik ist schwindelerregend, sein Anschlag vielschichtig und differenziert, seine Musikalität eminent. Say langweilt niemals, selbst, wenn seine Lesarten bisweilen irritieren, weil sie, so scheint es, dem Augenblick entwachsen und sich – selbst im Falle desselben Werkes – (ergo) selten gleichen. Say liebt (und lebt) die Spontaneität, sein eruptives Temperament schiebt sich immer wieder auf erfrischende Weise vor routinierten Zugriff. So überwältigt denn an diesem Pianisten vor allem dessen Neugierde und Unberechenbarkeit, Tugenden, die nicht nur das Publikum, sondern bisweilen auch ihn selbst zu überraschen scheinen. Says Beethoven-Exegesen an diesem Abend kehrten eher den ‘Stürmer und Dränger’ im Komponisten heraus, einen, den das Grenzen-Ausloten (und -Überschreiten) ebenso magisch anzieht wie die Entgrenzung. Extrem-Werte wie hitzige Gebärde sollten eine interpretatorische Gangart bestimmen, die eher der Magie des Moments geschuldet war, als bedächtigen, tarierenden Formens. Folgen wollten diesen Beethoven- Lesarten vor allem jene, die die Sonaten als ‘Vorspie’ zum rasanten Improvisationsteil des Konzertes begriffen. Ein Feuerwerk – ohne Frage.
Eine mit einem Streichquartettabend ausverkaufte Philharmonie, das ist, selbst in einer kulturaffinen europäischen Metropole, nicht die Regel. Schon gar nicht am Karfreitag. Doch Haydns dunkel eingefärbtes Quartett-Opus ‘Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze’ kann außerhalb der Karwoche (nachvollziehbar) nicht aufgeführt werden. Und so fanden sich über 1000 Menschen im großen Saal der Nationalphilharmonie ein, um, nicht nur, Haydns fragiler Musik, sondern auch den entsprechenden Botschaften (eindringlich nachempfunden und gesprochen von Wojciech Pszoniak) nachzusinnen. Mit dem ‘Leipziger Streichquartett’ agierte eines der führenden europäischen Ensembles in angemessener Balance aus Zurückgenommenheit, nuancierter Farbgebung und beispielhafter Luzidität. Kammermusik als Messe! Martin Hoffmeister