Frau Szalwinska, Sie sind eine klassisch ausgebildete Pianistin, haben aber vor über 20 Jahren die Musik Astor Piazzollas, also des Tangos entdeckt. Eine Musik, die Sie bis heute nicht losgelassen hat. Was war denn der Auslöser?
Schuld daran war die Fernsehübertragung der königlichen Hochzeit von Maxima und Willem-Alexander in Amsterdam im Februar 2002. Als beide die Ringe tauschten, wurde Piazzollas Tango Adios Nonino gespielt. Diese Musik hat mich so fasziniert, dass ich sofort begonnen habe, Recherchen anzustellen, mir Partituren anzuschaffen und mich in die wunderbare Musik Piazzollas regelrecht hineinzuknien. Es wurde zu einer Liebe, die mich bis heute nicht losgelassen hat. Ich war auch nie so die wirklich klassische Pianistin, auch nicht während meiner Ausbildung. Obwohl meine ganze Familie in Polen direkt oder indirekt etwas mit Musik zu tun hat, entspreche ich nicht der klischeehaften Chopin-Interpretin. Ich wollte nie darauf festgelegt werden und hatte bereits sehr früh meinen eigenen Kopf. Ich war damals eine regelrechte Rebellin und wollte von den Konventionen nichts wissen. Das ist mir bis heute geblieben. Als Mensch und als Pianistin.
Piazzolla war aber kein Komponist, der für Klavier geschrieben hat.
Tatsächlich bin ich nicht sofort fündig geworden, da es wirklich nur wenige Stücke von Piazzolla für das Klavier gibt. Die stammen aus seinen Anfängen und sind nicht besonders interessant. Er war ja klassischer Komponist und hatte am Anfang Schwierigkeiten, seinen heute unverwechselbaren Tango-Stil zu finden. Ich habe deshalb damals mit einigen Freunden ein Quintett gegründet, um die Musik von Piazzolla in Originalbesetzung spielen zu können. Wir haben uns dann nach und nach sein ganzes Repertoire für Quintett erarbeitet, sind auf Tournee gegangen und haben in Deutschland, Polen und Finnland Konzerte gespielt, aber auch in Luxemburg. Danach habe ich mich dann vermehrt den Transkriptionen zugewandt und selbst auch sein Aconcagua-Konzert für Bandoneon und Orchester für Klavier und Sextett umgeschrieben. Während der Pandemie habe ich dann das wunderbare Stück Oblivion in der hervorragenden Bearbeitung für Klavier von Nikolai Kuznetzov entdeckt und aufgenommen. Kuznetzovs Bearbeitung vermischt ein bisschen die Stile von Rachmaninov und Piazzolla und das liegt mir sehr gut. Auch der Sohn von Astor Piazzolla war sehr von meiner Aufnahme begeistert. Das hat mich sehr berührt.

Astor Piazzolla
Sie habe kürzlich auch einen Tango von Carlos Gardel aufgenommen….
Ja, ich hatte diesen Tango El Dia Que Me Quieras zufällig gehört. Die Musik hatte mich sofort angesprochen, ich konnte aber die Partitur dieser Transkription für Klavier nirgends finden. Ich habe kurzerhand den Komponisten Nicola Ledesma angeschrieben. Er hat meine Aufnahme von Oblivion gekannt, und mir sofort seine Transkription, die noch nicht öffentlich verlegt ist, für die Aufnahme freigegeben und das Manuskript zugeschickt.
Woher kommt der Tango eigentlich?
Der traditionelle Tango ist ein Tanz der der armen Leute in Argentinien. Das wurde in den Armenvierteln und in den Häfen und Bordellen getanzt. Aber es ist eine Mischung aus verschiedenen Kultureinflüssen. Man findet den spanischen Flamenco, dann wieder Rhythmen die aus Afrika und Cuba stammen, es gibt Einflüsse von den kanarischen Inseln, die damals von den Portugiesen besetzt waren. Tango kommt von dem portugiesischen Wort tanger her, was so viel bedeutet wie ich berühre. Aber genau kann man die Herkunft nicht bestimmen.
Findet man den als klassisch ausgebildete Pianistin leicht den Zugang zum Tango?
Da muss ich schon aufpassen und mir meiner Grenzen bewusst sein. Ich bin keine Tangopianistin im eigentlichen Sinne! Das ist ein eigener Stil, eine eigene Welt. Deshalb fühle ich mich auch in den Transkriptionen wohler, besonders dann, wenn sie meinem Naturell als expressive Pianistin entsprechen. Da kann ich dann meine klassische Ausbildung miteinbringen. Man muss auch unterscheiden. Gardel ist Tanztango, Piazzolla hat den Tango Nuevo erfunden. Und der Tango Nuevo ist ganz anders. Es ist vielmehr eine Konzertmusik und nicht tanzbar. Piazzolla entwickelte den eigentlichen Tango auf einer kunstvollen Ebene weiter und orientiert sich sowohl an Komponisten wie Bartok, Stravinsky und Prokofiev wie auch am progressiven Jazz. Trotzdem bleiben die Leidenschaft, die Sensualität und das Drama des traditionellen Tangos immer spürbar.
Piazzolla hat aber auch klassische Komposition in Europa studiert.
Ja, er war in Paris, wo er bei Nadia Boulanger studiert hat. Aber mit wenig Erfolg. Weder Boulanger noch er selbst waren zufrieden mit den Resultaten, die er erzielte, bis Boulanger ihm riet, sich doch mehr auf die musikalische Tradition seines Landes zu konzentrieren. « Du muss in Deinen Wurzeln suchen! », sagte sie ihm. Er hat sich dann dem traditionellen Tango zugewandt, den er jedoch stilistisch veränderte. Nicht mehr tanzbare, sich wiederholende Rhythmen standen im Mittelpunkt, sondern eine Weiterführung dieses Materials hin zur zeitgenössischen Musik. So hat er z.B. den Milonga, der eine schnelle Form des Tangos im 2/4-Takt ist, hinsichtlich des Tempos komplett verändert. Bei Piazzolla wird der Milonga zu einem sehr langsamen Tanz. Nach und nach fand der Tango Nuevo seinen Platz und wurde dann auch regelmäßig in den großen Konzertsälen aufgeführt.

Beata Szalwinska
Was können Sie uns denn über Ihr kommendes Konzert in der Fondation Valentiny sagen, das unter dem Titel Le Grand Tango stattfindet.
Dieses Konzert stellt wieder eine neue Etappe in meiner Beschäftigung mit dem Werk von Piazzolla dar. Hier arbeite ich mit dem argentinischen Bandoneonisten Gilberto Pereyra zusammen, der auch Dirigent und Arrangeur ist und in Paris arbeitet. Er kommt vom klassischen Tango her, während ich eher dem Tango Nuevo und der Klassik verbunden bin. Wir haben schon öfters zusammengearbeitet und es ist immer eine spannende Sache, wenn unsere verschiedenen Stile aufeinanderprallen und sich vermischen. Wir spielen zum ersten Mal Le Grand Tango, den Piazzolla für den weltberühmten Cellisten Mstislav Rostropowitsch komponiert hat. Es ist eine der wichtigsten Kompositionen Piazzollas und sehr schwierig zu spielen. Ein traditioneller Tangopianist kann das nicht spielen und auch die Cellopartie entspricht dem hohen spielerischen Niveau von Rostropowitsch. Wir spielen aber nicht diese Fassung, sondern basieren uns auf die Transkription für Klavier und Violine von Sofia Gubaidulina. Die Partie des Klaviers ist hier noch schwieriger als im Original, aber der Part der Violine ist besser für das Bandoneon geeignet. Wir werden drei Teile aus den Jahreszeiten spielen, das berühmte Ave Maria, zwei Stücke aus Histoire du Tango, Oblivion und noch andere Stücke. Vielleicht auch einen Tango von Carlos Gardel. Das wissen wir noch nicht. Aber das meiste wird von Piazzolla sein.
Konzert Le Grand Tango mit Beata Szalwinka, Klavier und Gilberto Pereyra, Bandoneon am 19. Oktober um 11.30 Uhr in der Fondation Valentiny. Info: https://www.valentiny-foundation.com/events/concert-le-grand-tango-beata-szalwinska-piano-gilberto-pereyra-bandoneon