Bayreuth, Festspielhaus

Die Drehbühne scheint nach Christoph Schlingensiefs ‘Parsifal’ auch in Bayreuth ein Come-back feiern zu dürfen. Nach ‘Rheingold’ und ‘Walküre’, wo uns die Drehbühne verschiedene Perspektiven auf das einzige, allerdings multifunktionale Bühnenbild ermöglichte, gab es im ‘Siegfried’ zwei Spielstätten. Der Vorhang öffnete sich und man erblickte einen riesigen Mount Rushmore, allerdings nicht mit den vier Präsidenten, die ja das Sinnbild von Freiheit und Demokratie darstellen, sondern mit den Köpfen von Marx, Lenin, Stalin und Mao, den Vertretern des Kommunismus. Das zweite Bühnenbild zeigte dann den reellen Sozialismus anhand des Berliner Alexanderplatzes vor der Wende.

Wie schon in den beiden vorangegangen Werken gab es auch im ‘Siegfried’ keine wirkliche Lichtgestalt. Mime (mit Rock) erschien als Perverser, und man kann sich durchaus vorstellen, dass der Hass, den Siegfried auf ihn hat, von einem Missbrauch herrührt. Siegfried besaß denn auch nur wenig Sympathisches, der sich in Sachen Charakter kaum von Mime, Alberich oder dem verkommenen Wotan (wohl der Figur von Döblins Franz Biberkopf nachempfunden) unterschied. Die Verlogenheit der Figuren wurde gerade hier (und in der ‘Götterdämmerung’) auf die Spitze getrieben. Castorf konterkarierte somit bewusst die herrliche Musik mit ihrer Poesie und Leidenschaft. Castorfs Personenregie im dritten Akt war so, dass man am Ende nicht genau wusste, ob der Regisseur die Zuhörer auf den Arm nehmen oder ihnen eine gehörige Lektion erteilen wollte.

Bayreuth 1 Enrico Nawrath Siegfried

Siegried (c) Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele

Mit einem zum Alkoholiker verkommenen Wotan wurde Brünnhildes Zukunft am Biertisch verhandelt, ehe nach Wotans ‘Hinab, hinab’ Erda diesem noch einen blasen musste. Damit war die Bayreuther Welt aber auch gar nicht mehr in Ordnung und als dann am Schluss noch Krokodile auf den ‘exanderplatz’ erschienen (doppelte Sinngebung: Hier verhandelt Wotan mit der Ex, hier kriechen gefräßige Echsen als Abschaum der Gesellschaft umher) und das Liebesduett ebenfalls am Biertisch allen Jubel verlor, war das Publikum nicht mehr zu halten. Der Kollege Manuel Burg von ‘Die Welt’ bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: « Castorf geht rüde mit seinem Personal um, aber selten sah man die Ring-Figuren so nackt, so menschlich, so nah.“ Genau das ist es! Es gibt keine Helden und Götter, es gibt keine großen Gefühle, keine weltumspannenden philosophischen Abhandlungen, es gibt hier nur das nackte Leben, menschenverachtende Handlungen, Brutalität, Gebrauchssex, Verlogenheit und Geldgier.

Die vielleicht zärtlichste Szene im ganzen Ring war erfunden. Der Waldvogel, eine Revuetänzerin in einem wunderschönen Vogelkostüm, war die einzige Figur, die eine Beziehung zu Siegfried aufbauen konnte. Indem Castorf den Vogel vermenschlichte, zeigte er Siegfried plötzlich eine Alternative. Denn als im Liebesduett der Waldvogel noch einmal auftrat, von einem der Krokodile fast aufgefressen und von Siegfried im letzten Moment gerettet wurde, hatte dieser die reelle Möglichkeit, sich zwischen dem Waldvogel und Brünnhilde zu entscheiden und somit vielleicht das Schicksal der Welt als ‘besserer Mensch’ zu verändern. Er wählte Brünnhilde und ging somit seinem Ende entgegen. Ein bitterer Schluss für dieses an sich einzige positive Finale (Meistersinger ausgenommen) einer Wagner-Oper.

In Castorfs ‘Götterdämmerung’ gab es mehrere Schauplätze. Eine Straße in Harlem mit einer Ecke für Vodoozauber, den Wohnwagen, den wir bereits aus ‘Rheingold’ und ‘Siegfried’ kannten, die berühmte Treppe aus Eisensteins ‘Pranzerkreuzer Potemkin’, eine Döner-Bude aus Berlin und schließlich die New Yorker Börse. Gerade mit diesem letzten Bild (die New Yorker Börse war zuerst noch wie von Christo verhüllt und liess uns an den Bundestag denken) schien uns Castorf sagen zu wollen, dass die wahre Macht nicht von der Politik, sondern vom Geld ausgeht. Und diese Machtspiele wurden uns dann auch von den handelnden Personen während der ‘Götterdämmerung’ immer wieder vorgeführt. Korruption, Verrat, Mord sind Trumpf; mit ehrbaren Heldensagen und epischen Gefühlen hatte das nichts mehr zu tun.

Götterdämmerung (c) Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele

Götterdämmerung
(c) Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele

Während Siegfried zu einem charakterlosen Dandy verkommen ist, schien Hagen die 89-Revolution aus dem Untergrund und von seiner Döner-Bude aus anzuführen, unterstützt von seinen Europa-Fähnlein schwingenden Mannen. Und wer dann auf den großen Weltenbrand wartete, wurde natürlich enttäuscht. Ohne Pathos gab Brünnhilde den Rheintöchtern den Ring zurück und schritt von der Bühne. Das letzte Bild: Hagen und die Rheintöchter, die den Ring am Ende in eine brennende Tonne geworfen haben, bleiben desillusioniert in den Slums, in der Gosse zurück.

Es folgte ein Buh-Orkan, wie man ihn in Bayreuth noch nicht erlebt hatte, dazwischen aber immer wieder laute Bravo-Rufe, die allerdings kaum eine Chance hatten gegen die Hassbekundungen in Richtung Castorf samt Team ( Bühnenbild: Aleksandar Denic, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Licht: Rainer Casper, Video: Andreas Deinert und Jens Crull) hatten.

Sängerisch wurde an beiden Abenden wieder Großartiges geleistet, allen voran von der sensationellen Catherine Foster als Brünnhilde, einer wirklich hochdramatische Sopranistin mit sicheren Spitzentönen, einer ausgeglichenen Mittellage und viel Sinn für lyrische Momente. Behält Frau Foster dieses Niveau bei, wird sie bald in einem Atemzug mit Varnay, Mödl und Nilsson genannt werden.

Fast alles für den Siegfried besitzt auch Lance Ryan: Strahlende Höhe, feinstes Piano, hundertprozentigen Einsatz. Nur singtechnisch lag es bei Ryan im Argen. Er sang mit einer solchen Begeisterung, dass er seine Stimme nicht mehr kontrollieren konnte und kaum noch die vorgeschriebenen Noten traf. Im 3. Akt Siegfried brach seine Stimme dann endgültig ein und er konnte sich nur noch mit einem mühevollen Brüllen über die Runden retten. In der ‘Götterdämmerung’ blieb Ryan in den ersten beiden Akten eher blass und stimmlich überfordert, während er den letzten Akt wieder sehr schön zu gestalten wusste.

Oleg Byriak sang einen soliden Alberich, und Sorin Coliban verkörperte den ‘Zuhälter’ Fafner mit viel Überzeugungskraft, während Wolfgang Koch als Wanderer und Nadine Weissmann als Erda überragend waren. Viel Applaus auch für Burkhard Ulrich als Mime und Mirella Hagen als Waldvogel. In der ‘Götterdämmerung’ erlebten wir mit Attila Jun einen stimmgewaltigen Hagen und mit Claudia Mahnke eine hervorragende Waltraute. Die beiden blassen Charaktere Gunther und Gutrune waren mit Alejandro Marco-Buhrmeister und Allison Oakes erstklassig besetzt.

Es ist lange her, dass man einen derartigen Jubel für einen Dirigenten hier in Bayreuth erlebt hat. Kirill Petrenko wurde an jedem Abend frenetisch gefeiert, und das mit Recht. Er hielt das Orchester enorm transparent und verzichtete auf allzu ‘große Momente’. Durch die Dynamik und den musikalischen Fluss behielt die Musik eine ungewohnte Natürlichkeit und Flexibilität. Petrenkos zügige, aber nicht schnelle Tempi, trieben die Handlung voran und gaben den Sängern immer die notwendige Sicherheit. Überhaupt entpuppte sich Petrenko als ein sehr sängerfreundlicher Dirigent, was sich dann auf der Szene auch auszahlte. Selten hat man auf der Bayreuther Bühne einen stimmlich so geschlossenen und überragenden ‘Ring’ erlebt.                        Alain Steffen

  • Pizzicato

  • Archives