Andris Nelsons und das 'Boston Symphony Orchestra' sind vom 3.- bis 12. Mai auf einer Europa-Tournee, mit Konzerten in Frankfurt, Essen, Leipzig, Dresden, München, Wien, Hamburg und Luxemburg, wo die Tournee am 12. Mai endet. Alain Steffen hat sich mit Andris Nelsons unterhalten.

Andris Nelsons

Andris Nelsons, als ‘Artist in residence’ der Luxemburger Philharmonie dirigieren Sie drei verschiedene Mahler-Symphonien mit drei verschiedenen Orchestern. Mahler: eine Herzensangelegenheit?
Für mich auf jeden Fall! Ich glaube, heute kommt kein Dirigent mehr an der Musik Mahlers vorbei. Er ist ein genialer Gigant. Aber er verlangt sehr viel von seinen Interpreten. Der Zugang zu seiner Musik und vor allem zu deren Kern ist nicht einfach, eher schwierig und komplex. Ich habe Jahre gebraucht, um Mahlers Musik wirklich zu verstehen. Und jedes Mal, wenn ich seine Symphonien dirigiere, entdecke ich Neues.

Wie haben Sie denn Mahler kennengelernt? Und wann?
Oh, eigentlich sehr früh. Ich muss elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein, da habe ich zum allerersten Male die 1. Symphonie gehört und ich war von den vielen Naturlauten, die Mahler hier komponiert hat, fasziniert. Diese bildliche Sprache hat mich damals sehr angesprochen und heute ist es nicht viel anders, wenn ich natürlich auch jetzt viel tiefer blicken kann. Im Laufe der Jahre sind mir Mahlers Werke wirklich ans Herz gewachsen und ich habe bisher bereits alle, mit Ausnahme der zehnten, schon dirigieren können. Und die Liederzyklen! Welche Musik! Ich muss aber zugeben, dass mir die 6. Symphonie etliche Schwierigkeiten bereitet hat. Sie ist so schwer, wirklich gut zu dirigieren. Und sie wirft dem Interpreten viele  Fragen auf, sowohl in technischer wie auch in emotionaler Hinsicht. Und erst, wenn man sich diese Fragen selbst beantwortet hat, ist man wirklich bereit, die Sechste anzugehen.

Sie haben auch mit Mahler beim Boston Symphony Orchestra debütiert.
Ja, das war 2011! Da bin ich kurzfristig für Maestro James Levine eingesprungen. Wir haben damals die Neunte von Mahler gespielt. Und ich erinnere mich, ich war furchtbar aufgeregt, dieses einmalige Orchester zu dirigieren. Aber ich muss sagen, ich wurde damals wunderbar von den Musikern unterstützt.

Und diese 9.Symphonie von Mahler spielen Sie auch auf dieser Europa-Tournee des Boston Symphony Orchestra. Ist es denn nicht schwierig für einen Dirigenten und auch für ein Orchester, auf einer solch anstrengenden Tournee auch noch hundertprozentig  für ein  solch ernsthaftes Werk wie die Neunte offen zu sein?
Ich liebe Tourneen und all die verschiedenen Herausforderungen, die damit zusammenhängen. Das BSO ist ein hochprofessionelles Orchester, das natürlich auf einer Tournee zeigen will, was es kann. Und ich kann Ihnen sagen, diese Musiker geben jeden Abend wirklich alles. Natürlich gehen wir nicht unvorbereitet auf eine Tournee, die Interpretation ist schon im Vorfeld bis ins kleinste Detail ausgearbeitet und geprobt worden. (überlegt) Nein, Interpretationsfragen stellen sich auf einer Tournee kaum. Viel schwieriger ist es, jeden Abend mit einer anderen Akustik zurechtkommen zu müssen und vor dem Konzert dann unsere Interpretation so gut wie möglich an die jeweiligen akustischen Verhältnisse anzupassen.
Auf der anderen Seite verändert es auch immer ein bisschen unser Verhältnis zum Werk, jede akustische Herausforderung wirkt sich am Ende positiv auf die Interpretationsentwicklung aus. Und am Ende der Tournee hat man vieles über das Werk hinzugelernt. Damit natürlich Tourneekonzerte allerhöchstes Niveau erreichen, muss das Verhältnis zwischen Dirigent und Musikern stimmen. Je besser man sich kennt, desto einfacher fällt das miteinander Musizieren. Und wenn ich genau weiß, wann und wo ich dem Orchester wieviel zumuten kann, haben wir immer genug Raum zum Improvisieren. Und um aus dem Moment heraus zu musizieren, müssen die Musiker wiederrum mich sehr genau kennen und innerhalb von einer Sekunde richtig zu reagieren. Wenn die Chemie stimmt, dann kann man eigentlich alles machen. Und dann kommt auch keine schlechte Routine auf. Im Gegenteil, man stößt zusammen immer weiter zum Kern der Musik vor.

Was ist denn in Ihren Augen die Quintessenz von Mahlers Neunter?
Ich denke, ab dem großartigen und intensiven  1. Satz strömt die Musik unweigerlich ihrem Ende, also diesem einmaligen Schluss-Adagio zu. Es ist eine Musik von großer spiritueller Energie, die insbesondere im 4. Satz zum Tragen kommt und einen Übergang vorbereitet, nämlich den Übergang zum Tod. In diesem Werk entwickelt Mahler an sich eine sehr positive Grundhaltung. Denn hier verbinden sich die Akzeptanz des Lebens mit der Akzeptanz des Todes. Somit ist die Neunte eine logische Schlussfolgerung der vorhergehenden Symphonien, wobei gerade die 5., 6. und 7. Symphonie uns von der seelischen Zerrissenheit und den Enttäuschungen Mahlers berichten. In der Achten schlägt er dann plötzlich einen neuen Weg ein und wird sehr philosophisch. Es ist der erste Schritt zur Akzeptanz seines Schicksals. Und in der Neunten lässt er verklärt und realistisch zugleich sein Leben noch einmal Revue passieren. Wobei wir aber hier von seelischen Landschaften und emotionaler Entwicklung sprechen und nicht unbedingt von konkreten Lebensepisoden. Es ist ein Werk, indem Mahler Frieden mit sich und seinem Schicksal schließt. Zu einem ähnlichen Resultat kommt übrigens auch Bruckner in seiner 9. Symphonie.

Doch Mahler und Bruckner unterscheiden sich aber inhaltlich?
Ja, denn Bruckner lebt in seiner Musik ganz seinen Glauben aus, seine Liebe zu Gott. Und da ist immer eine gewisse bäuerliche Naivität und Frömmigkeit. Mahler ist da weitaus egozentrischer, weshalb ihn auch viele nicht so mögen. In Mahlers Musik dreht sich eigentlich alles nur um ihn und sein Leiden. Man kann das jetzt mögen oder nicht, aber kaum ein Komponist ist je so tief in die Abgründe der Seele eingetaucht wie Mahler. Aber was erstaunt, ist doch die Tatsache, dass Mahler wie Bruckner jeweils in ihrer letzten Symphonie zu einem ähnlichen Schluss kommen.

Andris Nelson (c) Marco Borggreve

Andris Nelsons
(c) Marco Borggreve

Mit dem BSO haben Sie vor kurzem einen Shostakovich-Zyklus begonnen, der auch auf CD erscheinen wird. Wieso fiel die Wahl bei diesem ersten großen Projekt auf die Shostakowich-Symphonien?
Neben Mahler ist Shostakovich für mich der zweite Gigant des 20. Jahrhunderts, vor allem, was die Gattung Symphonie betrifft. Es ist vielleicht der Komponist, der mir persönlich am meisten am Herzen liegt und ohne dessen Musik ich nicht leben kann. Ich bin in der ehemaligen Sowjetunion aufgewachsen und habe als Musiker somit eine sehr starke emotionale Bindung an Shostakovichs Musik. Zudem ist es eine doppelte Herausforderung, weil das BSO die Musik von Shostakovich seit den Zeiten von Serge Koussevitzky nur sehr selten gespielt hat. Und das ist nun etliche Jahrzehnte her, so dass die Orchestermusiker von heute mit ihm wirklich Neuland betreten. Und sie sind begierig, diese Musik zu spielen. Wenn man ein Orchester zur Verfügung hat, das mit einer solchen Spannung und Lust Shostakovich angeht, dann kann man als Dirigent nur von Glück sprechen.

Beim Hören Ihrer Aufnahme der 10. Symphonie ist mir aufgefallen, dass Sie sehr musikantisch an das Werk herangehen und es eher als absolute Musik, denn als politisches Statement dirigieren. Haben wir nicht heute die Tendenz, Shostakovichs Musik ausschließlich von dieser politischen Seite aus zu betrachten und das musikalische Genie etwas zu vernachlässigen?
Ja, leider suchen viele Interpreten in Shostakovichs Musik zuerst die politische Botschaft. Und die gibt es auch nur in verschiedenen Symphonien, denn nicht jedes Werk von ihm ist politisch begründet.  Bei Shostakovich geht es vielmehr, so sehe ich das jedenfalls, um das Universelle und Menschliche. Was seine Musik ausmacht, das sind die Emotionen, das Leben, die Entwicklung und natürlich die kompositorische Genialität. Wenn man sich in diese Musik fallen lässt und sie, wie Sie sagen, als absolute Musik betrachtet, was völlig richtig ist, dann entdeckt man in den Nuancen sehr viel philosophisches Potential und eine wirklich humanistische Grundhaltung.
Natürlich ist Shostakovich auch ein Kind seiner Zeit und er ist Russe. Das bringt dann auch mit sich, dass in seiner Musik immer eine gewisse patriotische Komponente mitschwingt, deren Ursprung aber in der Tradition der russischen Musik selbst zu suchen ist. Trotzdem ist die Entwicklung seiner Musik nie gradlinig. In seinen ersten drei Symphonien experimentierte Shostakovich, wobei die 1. Symphonie seine Diplomarbeit war und großen Erfolg hatte. Die Zweite war dann sehr atonal und die dritte wieder gemäßigter in ihrer Sprache. Auf eine sehr avantgardistische Vierte folgt dann eine recht angepasste Fünfte. Im Gegensatz zu Mahler, dessen Musik für sich selbst steht, stand Schostakowitsch immer in irgendwelchen äußeren Konflikten und musste sich deshalb immer anpassen. Meist waren diese Konflikte politischer Natur, die Musik, die er aber schrieb, entstand zwar vor diesem Hintergrund, war und ist aber deshalb nicht unbedingt politisch motiviert.

War Shostakovich der letzte große Symphoniker?
Wenn man es vom symphonischen Gesamtschaffen aus betrachtet, würde ich die Frage eindeutig mit ja beantworten. Shostakovichs Symphonien sind der Spiegel eines Lebenszyklus‘ und deshalb auch sehr authentisch. Das beginnt mit der fulminanten, lebensbejahenden Ersten und endet mit der 15. Symphonie, die deutlich Schostakowitschs Angst vor dem Tod wiederspiegelt. Dazwischen liegt ein ganzes Leben! Seine Sprache ist universell und eigentlich zeitlos. Natürlich hat das 20. Jahrhundert auch andere Symphoniker herausgebracht, wie beispielsweise Hans Werner Henze(*), aber kaum ein anderer Komponist erreicht die Menschen mit einer derartigen Kompromisslosigkeit und Ehrlichkeit, wie Dmitri Shostakovich. In Mahler und Shostakovich finden wir uns alle wieder, egal, von wo wir kommen. Deshalb hat ihre Musik auch solch einen internationalen Erfolg.

Das BSO hatte viele große Chefdirigenten wie Koussevitzky, Munch oder Ozawa und besitzt somit eine sehr reiche Tradition. Wie würden Sie denn dieses Orchester beschreiben?
Das BSO ist tatsächlich ein sehr altes Orchester. Es wurde bereits 1881 gegründet und ist somit älter, als so manches europäische Orchester. Die Stärke des Orchesters liegt darin, dass es in all diesen Jahren mit der gesamten europäischen und zugleich mit der amerikanischen Tradition in Kontakt kam. Karl Muck und Erich Leinsdorf  brachten dem Orchester die deutsche Tradition nahe, Monteux und Munch die französische, Serge Koussevitzky die russische und Steinberg die amerikanische. Das hat dazu geführt, dass das BSO heute ein sehr vielseitiges Orchester ist, das sich eigentlich in allen Stilen zu Hause führt und somit auch einen ganz eigenen  Klang entwickelt hat. Man findet amerikanische Brillanz, deutsche Präzision und französische Transparenz und Sensualität. Das BSO ist demnach ein Orchester, mit einer enorm reichen Farbenpalette und einer fantastischen spielerischen Qualität. Gerade meine Vorgänger James Levine und insbesondere Seiji Ozawa, der das BSO fast dreißig Jahre lang dirigiert und geprägt hat, haben das Orchester auf ein technisch sehr hohes Level gebracht. Und trotz aller Professionalität ist das BSO ein sehr neugieriges und lernbegieriges Orchester geblieben, wie ich das jetzt mit dem Shostakovich-Projekt feststellen konnte.

Welchen Herausforderungen muss sich gerade der Chefdirigent eines BSO heute stellen?
Als Chefdirigent ist man eingeladen, die bereits Jahrzehnte lange Entwicklung des BSO für eine kurze Zeitspanne zu begleiten. Ich muss als Chefdirigent die Tradition des Orchesters respektieren und weiterführen. In anderen Worten: Ich muss die Zukunft durch die Augen der Vergangenheit sehen. Ein Orchester ist aber kein starres Gebilde sondern ein lebender Organismus und ist deshalb auch immer seiner Zeit verpflichtet. Und das ist das frühe 21. Jahrhundert. Jeder Dirigent, jedes Orchester hat die Verpflichtung, auch den Komponisten seiner Zeit zu dienen und ihre Musik zu spielen. Dabei soll der zeitgenössische Komponist die Musik aber immer im Sinne ihres Wesens  behandeln und somit nämlich Emotionen in Publikum zu transportieren, den Zuhörer berühren, aufrütteln, manchmal schockieren, ihm vor allem aber die Freude an der Kunstform Musik vermitteln. Sie darf das Publikum nicht verschrecken. Innovation muss immer im Respekt der Tradition geschehen. Und zeitgenössische Musik darf nicht nur für eine Elite sein, sondern sie soll vom jedem verstanden werden können. Und ich denke, gute zeitgenössische Komponisten wie beispielsweise unser ‘Artist in Residence’ Thomas Adès haben damit keine Probleme. Sie wissen, wie Musik funktioniert.

* Und Penderecki? (Anm. der Redaktion)

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