(c) Martin Kaufhold

Hervorragend inszeniert, musikalisch nicht weniger exzellent: die saarländisch-luxemburgische Koproduktion des Musicals Anatevka hat das Publikum im Grand Théâtre in Luxemburg zu Recht begeistert. Remy Franck berichtet.

In einer Inszenierung von Gil Mehmert kamen die Ensembleszenen wie auch die intimeren Momente des Musicals von Jerry Bock packend zur Geltung. Das Sujet hätte zu politischen Interpretationen und Aktualisierungen führen können, von denen Mehmert glücklicherweise absah, um die ganze, ureigene Symbolik des Musicals ohne Zeigefinger aus sich heraus wirken zu lassen. Denn in quasi keiner Szene dieses Musiktheaters wurde der Zuschauer nicht an das Grauen erinnert, das seit Jahrhunderten andauert, von dem Moment an, als Zarin Katharina II. die Juden im russischen Kaiserreich in den sogenannten Ansiedlungsrayon verbannte, wo trotzdem niemand sicher war vor der Brutalität der zaristischen Armee. Anatevka ist ein Ort in eben diesem Ansiedlungsrayon und es liegt in der heutigen Ukraine. Und so wurde man nicht nur an den aktuellen barbarischen Angriffskrieg des russischen Despoten erinnert, sondern das ganze Ausmaß dieser unsäglichen Geschichte wurde deutlich, von den Pogromen unten den Zaren, der Knechtung unter den Kommunisten, dem Morden der Nazis bis hin zu Sibirien und Navalny. Wohl sind die Konfrontation von Tradition und Generationskonflikt in diesem Musical ein Hauptthema, doch dem Zuschauer wurde in dieser Aufführung letztlich klar, dass sich von der Hegemonie der Zaren bis zu jener des aktuellen Tyrannen nichts verändert hat. Der Unterhaltungscharakter von Anatevka mag daher so groß und blendend sein, wie er will, in der gegenwärtigen Weltlage kann er das Bedrückende nicht verhindern, denn selbst wenn vom ‘gelobten Land’ die Rede ist, in die die Hochzeitvermittlerin Jente auswandern will, ziehen Bilder der Zerstörung düster auf.

Der lokale Vertreter der zaristischen Armee teilt den Juden aus Anatevka mit, dass sie das Dorf verlassen müssen. Links neben dem Rabbi ist Enrico de Pieri als Tevje zu sehen. (c) Martin Kaufhold

Gil Mehmert ist es jedenfalls gelungen, die Story so zu inszenieren, dass die handelnden Personen uns direkt ansprachen und wir gewahr wurden, dass ihre Lust am Feiern letztlich nicht ganz so groß war wie ihr Überlebenswillen und ihr Glauben an eine bessere Zukunft, denn auch in Anatevka waren sie nicht wirklich glücklich.

Prägend bleiben dennoch einige der Regieideen von Mehmert, wenn es darum ging, das Ensemble auf der Bühne zu zeigen, etwa im Anfangstanz ‘Tradition’, der Hochzeitszeremonie, die von russischen Schlägern unterbrochen wird und ganz besonders in Tevjes makabrem Albtraum mit hämisch tanzenden Skeletten und der über allem schwebenden, riesigen Geisterfigur der toten Metzgersfrau. Interessant war auch die Idee des Regisseurs, in einzelnen Szenen den gesungenen oder gesprochenen Text durch eine wortbezogene Handlung zu verdeutlichen.

Diese fantasievolle und temporeiche Inszenierung profitierte vom praktischen Bühnenbild von Jens Kilian, der das ukrainische Dorf mit auf der Drehbühne platzierten Holzhäusern zeigte, die ebenso ansprechend wie vielseitig wirkten, weil sie schnelle Szenenwechsel zwischen Straßenseite und Innenräumen ermöglichten. Passende Kostüme unterstrichen den authentischen Charakter.

(c) Martin Kaufhold

Doch zum Erfolg trugen auch die Darsteller maßgeblich bei. Die gesamte Besetzung  war vorzüglich, auch wenn das Hauptlob an den Milchmann gehen muss. Enrico De Pieri war ein in allen Hinsichten stimmlich wie darstellerisch souveräner und beeindruckender Tevje, der diese in ihrer Unmittelbarkeit doch so komplexe Figur grandios darstellte. Eine Meisterleistung!

An seiner Seite war Christiane Motter als Golde eine genauso exzellente, ihre Rolle fein differenzierende  Interpretin. Alle weiteren Rollen waren hervorragend besetzt und detailreich einstudiert.

Justus Thorau dirigierte den Chor des Staatstheaters und das Saarländische Staatsorchester und holte deutlich mehr aus der Partitur als man gemeinhin hört.

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