Alexander Müllenbach gehört zu den produktivsten und gleichzeitig international anerkanntesten Luxemburger Komponisten. Er hat seit 1978 über 100 Werke komponiert, die von renommierten Künstlern u.a. bei den Salzburger Festspielen, beim Winter-Festival in Moskau, bei 'Musica Strasbourg', der Mozartwoche Salzburg oder den 'Barbican Music Series' aufgeführt wurden. Remy Franck hat sich mit Alexander Müllenbach über seine Komponisten-Tätigkeit unterhalten.

Alexander Müllenbach
Photo: Remy Franck

Herr Müllenbach, Sie sind ein arrivierter Komponist, Sie haben einen guten Verlag, werden viel aufgeführt, das alles durch zähe Aufbauarbeit und wohl auch erst seit Sie in Österreich leben. Hat Österreich in diesem kompositorischen Umfeld mehr gebracht als Luxemburg?
Das kann man schon sagen, und zwar aus zwei Gründen: Zum Einen war Luxemburg, in dem Augenblick, als ich nach Salzburg ging, nicht so weit entwickelt wie heute, wo es vielleicht etwas leichter ist, in den internationalen Trend zu kommen. Aber ich bin ja auch nicht nach Salzburg gegangen und habe gesagt: ‘Hier bin ich!’, als hätten alle darauf gewartet, dass ich kam. Ich habe vielmehr wieder von unten angefangen, indem ich Komposition studiert habe, und auf diese Weise bin ich ganz natürlich in diese Umgebung hinein gewachsen.
Ich war kaum einen Monat in Salzburg, da hatte ich schon meine erste Anstellung als Korrepetitor. Ich war einmal, bei einer Gesangsstunden dabei. Die Lehrerin, die berühmte Susanne Anders, die Frau vom Tenor Peter Anders, war ganz verzweifelt, weil sie keinen Korrepetitor hatte, und dann habe ich ihr angeboten, einzuspringen. Nach fünf Minuten ist sie rausgerannt – ich hab’ gedacht: Was ist denn jetzt los? – , war zehn Minuten später zurück und sagte mir, das Mozarteum wolle mich als Korrepetitor anstellen. Eine Woche später fand ein Examen statt, und dann war ich drinnen. Nach drei Jahren habe ich mein Kompositionsdiplom gemacht, mit Auszeichnung, so dass ich die Paumgartner-Medaille bekommen habe. Ein paar Monate später habe ich beim großen ORF-Wettbewerb den ersten Preis gewonnen, und so ging es ‘de fil ein aiguille’, wie man auf Französisch sagt. Ich glaube, das ist der Weg, der zu beschreiten ist. Wir wissen in Luxemburg oft nicht, wie zäh man sein muss, um international etwas zu erreichen. Es genügt nicht, in seinem Kämmerlein zu sitzen und unter Umständen geniale Kompositionen zu schreiben, man muss einfach seine Arbeit auch mit der ganzen Person vertreten.

Nun ist ja Salzburg nicht unbedingt eine Stadt, die man mit zeitgenössischer Musik in Verbindung bringt.
Salzburg ist sicherlich keine Hochburg der Moderne, überhaupt nicht, aber das hat mich auch nicht so interessiert. Mir ging es darum, eine Position zu finden, wo ich als Komponist eine Mittlerfunktion einnehmen konnte zwischen Publikum und Komponist, zwischen heute und morgen. Ich hielt es stets für wichtig, eine gewisse Tradition nie loszulassen, sondern sie mit zu transportieren.

Wo knüpfen Sie denn an? Wo sind Ihre Wurzeln?
Ich glaube, in bin exakt das, was man als Luxemburger ist: Ein Mensch mit zwei Kulturen. Auf der einen Seite gibt es französische Elemente, mit Einflüssen von Messiaen und Dutilleux, die natürlich immer geringer wurden, das ist ganz logisch, in dem Maße, wo man sich emanzipiert und seine eigene Sprache findet, aber sie sind doch sehr, sehr wesentlich gewesen für mein musikalisches Denken. Auf der anderen Seite steht Hindemith, – nicht so sehr, was seine Sprache im Detail anbelangt, sondern vielmehr durch die Art und Weise, wie ein Werk handwerklich zu bewältigen ist, und auch, wie man ethisch als Komponist da steht. Das heißt,  dass man immer zu komponieren hat, und nicht nur einfach auf den Einfall warten soll: das hat mir Hindemith vermittelt. Man braucht nur an ihn zu denken, und schon wird man fleißig. Bach, der über meinem Klavier hängt, vermittelt mir ebenfalls diese Ansicht. Ferner ist sicherlich ein Einfluss spürbar – wenn auch indirekt und gar nicht so bewusst – von der Wiener Schule. Nicht so sehr von Schönberg, eher von Berg und Webern. Webern hat durch sein doch sehr analytisch geprägtes Denken über die Musik schon einiges bei mir bewegt. Das hat sich in den frühen Achtzigern bei mir auch in manchen Werken niedergeschlagen, z.B. in ‘Correspondances’ oder ‘Dream Music’. Das sind Werke von einer sehr filigranen Art, immer am Rande des Schweigens, Werke, die kleine, feine Figuren artikulieren, was sicherlich nicht meine Urfacette ist, weil ich vielleicht doch eher ein Ostinato-Typ bin, der große Entwicklungen mag, der auf einer Struktur fährt, der in einer Struktur Gewalt anwendet. Aber ich habe halt mehrere Facetten… Daher halte ich auch einsätzige Werke, wie sie in Mode sind, für mich zu einseitig. Ich mag es nicht, ein Stück nur aus einer Idee zu entwickeln. Es bekommt dann erst eine wahre Dimension, wenn man Gegensätze verarbeitet, so wie es die Klassiker ja auch getan haben. Für Beethoven beispielsweise wäre es undenkbar gewesen, eine Sonate oder Symphonie in nur einem Satz zu komponieren…

Hindemith, Berg, Webern, Dutilleux, Messiaen, ist das auch die Musik die Sie hören oder sind Sie einer jener Komponisten wie Cage, der einmal sagte, er habe in seinem Ganzen Leben nur vier oder fünf Opern gehört und nie eine Wagner-Oper, und der daher auch nicht wusste, wie Wagner überhaupt klingt…
Gewiss nicht! Ich höre sehr viel verschiedene Musik, auch Barockmusik und Renaissancemusik…

Ist das mit der Barockmusik jetzt eine Modeerscheinung oder war das immer so?
Das war eigentlich immer so! Es gibt natürlich einen Unterschied, ob man etwas als Komponist hört oder einfach, weil man Musik hören will. Ich bemühe mich eigentlich, möglichst viel einfach so zu hören, um den ursprünglichen Zugang zur Musik nie zu verlieren. Ich höre auch viel zeitgenössische Musik, und das eben meistens aus professionellen Gründen, weil es nicht allzu oft passiert, dass man dann so fasziniert ist und ein Werk immer  und immer wieder hören will. Es gibt natürlich auch solche Werke, die einfach grandios sind und die ich mir hunderte Male angehört habe, etwa die 2. Symphonie von Dutilleux – das war vor 20 Jahren… Ich habe dieses Werk mit einer unglaublichen Begeisterung gehört. Die Streichquartette von Ligeti sind ebenfalls unglaublich toll in ihrer Struktur, oder manches von Messiaen. Es gibt in ‘Des Canyons aux Etoiles’ eine Passage, für die würde ich sofort alles andere fallen lassen und sie mit auf die Insel nehmen. Ich habe dieses Werk in Metz bei einer der ersten Aufführungen gehört und mir sind bei dieser Passage die Tränen in die Augen gekommen. Das ist etwas unglaublich Seltenes für Musik des 20. Jahrhunderts, aber es auch etwas Wesentliches. Auf der einen Seite ist es schon sehr interessant, als Komponist Strukturen auszuarbeiten – das ist gewissermaßen der mathematische Aspekt! – aber auf der anderen Seite darf man nie vergessen, was Musik eigentlich vermag, es ist wichtig, dieses Orphische berühren zu können. Das hat für mich immer eine ganz große Rolle gespielt.

Haben Sie als Pianist auch Messiaen gespielt, den ‘Catalogue des oiseaux’ etwa?
Als ich das Komponieren hauptberuflich machte, musste ich das Klavier etwas vernachlässigen.

Welche Rolle spielt das Klavier denn heute?
(lachend) Das Klavier hat eine zentrale Position in dem Sinne, dass es bei mir mitten im Zimmer steht. Aber im Ernst: Ich spiele, auch wenn mir, bei meinen zahlreichen Aktivitäten, nicht allzu viel Zeit bleibt, doch immer wieder, mit großer Begeisterung, Klavier, auch öffentlich, vor allem als Kammermusiker und  Liedbegleiter. Aber es ist doch klar, dass das Klavier nicht mehr an erster Stelle kommt. Mein großer Wunsch war es immer, eine Einheit in meinen Leben herzustellen. Das hat mich auch frühzeitig bewogen, keinen Klavierunterricht mehr zu geben. Das ist ein anderer Bereich, das sollen die Leute machen, die wirklich in diesem Bereich Klaviermusik drin sind und um jeden Fingersatz kämpfen. Mir war es wichtig, dass ich das mit meinen Schülern teile, was ich den ganzen Tag denke, womit ich mich intensivst beschäftige, woran ich manchmal leide…

Welche Gedanken sind das?
Nun, ich komponiere ja nicht einfach drauf los. Ehe ich an ein Werk heran gehe, kann es  Monate intensivsten Vorausdenkens geben.

Und was ist der Auslöser dieses Denkens?
Der Auslöser einer Komposition ist sehr oft eine Art Blitz von etwas unglaublich Schönem, unglaublich Faszinierendem, was man erlebt hat. Solche Blitze gibt es oft in Verbindung mit Musikern, wenn jemand fragt, ob ich ihm ein Stück schreiben kann. In dem Augenblick, wo man an die Möglichkeit denkt, was man machen könnte, in dem Augenblick kommen plötzlich so diese Figuren, diese Funken …. Und das sind wunderbare Augenblicke. Diese plötzlichen Eingebungen sind es im Grunde, die man später wieder finden möchte, weil sie ja gehörte Musik darstellen, aber wie in einem Blitz gekommen sind.

Kann es auch ein, dass ein Ereignis in der Welt oder im direkten Umfeld eine Komposition auslöst?
Könnte sein, aber es ist nicht vorauszusehen. Das Faszinierende beim Kompositionsprozess ist, wie bei jeder wahrhaft kreativen Tätigkeit, dass es immer im Augenblick passiert. Man weiß noch gar nicht, was im nächsten Augenblick sein wird.
Daher denkt man auch Monate voraus, weil man einerseits Angst davor hat und andererseits fasziniert ist. Man hat Angst davor, dass nicht das herauskommt, was man sich erträumt hat, und auf der anderen Seite spürt man, dass die Feder einem Gesetz folgt,  das man nicht selbst ist, sondern das irgendwo herkommt. Manchmal tastet man sich voran und merkt gleich, dass ist es ‘das’ noch nicht ist. Doch wenn es dann da ist, geht es wie von selbst, mit einer unglaublichen Schnelligkeit, als ob jemand diktieren würde. Die Gedanken kommen so wahnsinnig schnell und nachher, wenn man das Geschriebene begutachtet, ist man erstaunt über ein Netzwerk von Zusammenhängen, das man so schön nie hätte planen können.

Das klingt sehr intellektuell. Wo bleibt das Seelische?
Das Seelische ist ohnehin sehr stark in meiner Musik vertreten, weil ich nie einen ‘kalten Ton’ schreibe. Ein Ton, eine Phrase, ein Akkordwerk kommt nie aus einer Berechnung heraus, obschon ich auch mit Zwölftonreihen arbeite. Ich habe mir Methoden erarbeitet, die nur ganz lockere Hilfsmittel sind und mich zu nichts zwingen. Es muss möglich sein, in bestimmten Augenblicken die Farbe Gold zu verwenden, es muss möglich sein, eine unbeschreibliche Freude zu artikulieren, wenn es die innere Notwendigkeit verlangt.

Wir haben von Wurzeln gesprochen und von Weiterentwicklung. Wo würden Sie sich stilistisch ansiedeln? Die Komponistenwelt heute ist ja ungeheuer vielfältig….
Schnittke hat den Begriff des musikalischen Pluralismus geprägt, der mir sehr gut gefällt. Ich stehe in einer Position der Mitte, weil ich mich manchmal minimalistischer Strukturen bediene, so wie im letzten Satz meines Streichquartetts oder wie in ‘Die Königin der Nacht’: die Zentralpassage ist von einer berserkerhaften Repetitivität. Dagegen stehen dann in den beiden Eckteilen sehr zerfetzte, sehr explosive Strukturen, die überhaupt nicht mehr diese Regelmäßigkeit widerspiegeln. Solche Gegensätze und ihre Unvorhersehbarkeit, die mag ich!

Sie sind also tendenziell irgendwie schon auf dem Weg der Rückkehr. Stockhausen hat ja gesagt, 1978 habe die neue Musik aufgehört…
Das hab ich nicht gewusst von ihm, dass er das gesagt hat, aber er hat das in dem Fall gar nicht so falsch gesehen. Es ist klar, dass wir in puncto Experiment nicht mehr so sehr viel Neues herausholen können. Aber es gibt immer noch gewisse Möglichkeiten und einzelne  Nischen, und man kann auch immer originelle Lösungen oder Kombinationen finden, unerwartete Instrumentierungen, unerwartete Wendungen, unerwartete formale Lösungen, aber im Großen und Ganzen gibt es so etwas wie das tägliche Brot, dem man sich nicht entziehen kann. Es gibt in der Musik wie in jeder Kunstrichtung Grundelemente, und wer glaubt, er könne darauf verzichten, der hat sich geirrt. Ich glaube, es  war überhaupt nicht falsch, dass sich das Publikum in den Sechzigern und Siebzigern von Manchem abgewendet hat, weil ihm das tägliche Brot darin fehlte, weil ein Bezug fehlte. Dieser Bezug ist eine gewisse Melodik, eine gewisse ‘hörbare’ Sinnhaftigkeit und Kohärenz in der Thematik, in der Melodik, in der Verarbeitung, in der Rhetorik, Sinnhaftigkeit auch in der strategischen Anlage. Allerdings gab es damals auch ganz wunderbare Schöpfungen. Es ist nicht so, dass man einfach global etwas zu verdammen hätte. Ich bin sogar der Auffassung, dass noch nie so interessante Musik geschrieben worden ist wie in jener Zeit. Aber das bringt auf der anderen Seite natürlich mit sich, dass auch viel Käse geschrieben wurde. Es wurden noch nie so viele Scharlatane geboren, die in der Nachfolge eines Cage z.B. ihre Zeit gekommen sahen, um egal was zu machen, mit Eimern Wasser auf der Bühne, wo Klarinetten hineingetaucht wurden, die dann blabb, blabb, blabb, blibb machten. Es gab ja unglaubliche Sachen, und man soll nicht glauben, dass alles ein Kunstwerk zu sein hat. Zu Beethovens Zeit haben 3% überlebt und das wird heute auch nicht anders sein

Die Entwicklungschancen gehen also eher in Richtung Substanz?
Wir erleben tatsächlich eine Rückbesinnung auf Substanz, auf Musik für den Menschen könnte man sagen. Man sollte sich aber auch davor hüten, wieder in eine Verflachung zu fallen. Es muss das Experimentieren weiter geben, es muss die Komponente des Unerwarteten, des Explorativen auf jeden Fall weiter bestehen bleiben.
Nun ist ja lange Zeit mit der Entwicklung der Komposition auch die Entwicklung des Orchesters oder der Instrumente einher gegangen. Nun scheint das traditionelle Orchester doch an einem Punkt angelangt zu sein, wo sich nicht mehr viel verändern kann.
Das klassische oder romantische Orchester ist in seiner Substanz im Grunde genommen nicht erneuerungsfähig. Man kann etliche neue Kombinationen mit Schlagzeug und mit Elektronik versuchen, oder einzelne alte Instrumente, ja selbst solche aus der Pop-Branche einbeziehen. Ich liebe Elektrogitarre, das ist ein wunderschönes Instrument, und ich werde es auch sicher in dem einen oder anderen  Orchesterstück integrieren aber, die Einsatzmöglichkeiten sind doch eher begrenzt.
Zur Zeit herrscht, wie ich es bereits andeutete, in der zeitgenössischen Musik so etwas wie eine Rückbesinnung auf menschliche Werte, auf menschliches Leben, auf die Natur usw. Sie versucht gewissermaßen den negativen Folgen der Globalisierung entgegenzuwirken, indem sie wieder den einzelnen Menschen anspricht. Das gab es in den Sechzigern und Siebzigern des XX. Jahrhunderts nicht. Da gab es ein Vorwärtsstürmen, ein Vorwärtsdrängen, und das war natürlich vital und wichtig. Viele Komponisten beschäftigten sich mit der Eroberung des Klangraums – der ja eine Parallele zur Eroberung des Weltraums in der Physik darstellt. Es gibt viele Stücke über das Weltall, über die Weite des Alls, über dieses Schweben, mit konstellationsähnlicher Anordnung der Töne und Klänge…das alles sind Vorausnahmen eines Prozesses, der sicher weitergehen wird und wahnsinnig wichtig ist im Hinblick auf die drohende Überbevölkerung der Erde. Im Augenblick jedoch scheint er nicht aktuell, man zieht sich zurück auf die Welt und auf die Natur… Oder ins Transzendentale. Das Spirituelle nimmt ja doch einen breiten Raum ein. Meines Erachtens drängen sich zwei Feststellungen auf, wenn man die Musik von heute betrachtet: einerseits sind die Grenzen in der Musik gefallen, d.h. es ist schwieriger geworden, Musik national einzuordnen: das ist die Globalisierung auch in der Musik. Auf der anderen Seite stellt man aber wiederum fest, dass die Musik die Tendenz der wirtschaftlichen Globalisierung mit ihren Kompositionen manchmal sogar  kontrastiert und sich tatsächlich, wie Sie sagen, wieder mehr auf den Menschen bezieht, die große Dimension also relativiert.
Nun gibt es allerdings Bemühungen, eine Art globale Musik zu schaffen schon seit längerer Zeit, bei Stockhausen, bei Xenakis, bei Messiaen und vielen anderen gab es bereits weitgehende Einflüsse außereuropäischer Musik, Geisteshaltung und Philosophie, gewissermaßen ein Vorausnehmen der Globalisierung in musikalischer Hinsicht. Man weiß ja, dass die Kunst der Zeit immer etwas voraus ist. Wenn wir uns heute wieder mehr um unsere Wurzeln kümmern, so deshalb, weil die Kunst voraussieht, dass die Globalisierung zu nichts Interessantem führt, weil die Gegensätze verschwinden, weil die Eigenarten verschwinden, weil die Welt langweilig wird, sie wird ‘Mc Donaldisiert’! Und würde die Musik ‘Mc Donaldisiert’ werden, wäre das katastrophal. Wir müssen uns also wieder auf Originalität besinnen. Für uns Luxemburger, ist das problematisch. Unsere  Herkunft ist in Sachen Musik nicht ausgeprägt. wir sind Kinder Europas und wachsen am Schnittpunkt zweier Kulturen  auf. Ich habe mich sehr wohl mit unserer ‘Volksmusik’ beschäftigt, denke aber, dass da nicht sehr viel herauszuholen ist. Aber diese Musik hat mich doch immer wieder fasziniert, vielleicht weil sie mit einem schönen Rückblick in meine Kindheit verbunden ist. und ich habe ein Bändchen mit Volksliedern auf eine – glaube ich – originelle Art und Weise für Stimme und Klavier gesetzt, so ähnlich wie Britten das mit den englischen Folksongs gemacht hat Diese Sammlung wird in nächster Zeit erscheinen und ich bin überzeugt, dass diese Musik auch international ein bisschen Chancen hat. Ich erinnere mich an einen Liederabend mit Fernand König in Wien, wo wir als Zugabe ‘D’Pierele vum Da’ gaben. Nachher haben uns Leute gefragt, was das war und wer es geschrieben hat, und es habe wie Mahler geklungen…. Und in dem Augenblick hab ich mir gedacht, es wäre vielleicht ganz gut, wenn manche unserer Sänger bei Auftritten im Ausland so kleine Encores geben würden.

Kommen wir zum Handwerklichen zurück. Wie komponieren Sie, leicht, oder schwer? Sie haben vorhin den langen Denkprozess abgesprochen, aber Denken genügt ja nicht, irgendwann muss ja etwas auf’s Blatt kommen.
Ja, aber man braucht halt meistens diesen langen Prozess des Hinkommens, bis der Damm bricht. Man stellt sich das immer so schön vor, aber manchmal ist es doch ganz schön schwierig. Es gibt da schon diesen Aspekt der Angst vor dem eigenen Schatten und den muss man immer wieder überwinden, auch bei Opus 100. Manchmal geht es freilich ganz schnell. Ich erinnere mich an meine ‘Partita für Violine’. Ruggiero Ricci hatte mir bei einem Dinner gesagt, ich solle ihm ein Stück für Solovioline schreiben. Ich sagte: ‘Haben Sie ein Stück Papier, dann fange ich gleich an!’ Er rief den Gastgeber, der uns Notenpapier brachte, und dann fing ich sofort an. Ich habe einen ganzen Satz während des Essens geschrieben. Alle haben um mich herum geredet, und ich komponierte. Der Satz war supergut! Ich habe dann in den nächsten Tagen noch zwei Sätze dazu geschrieben, und es ist eines meiner besten Werke geworden.

Wie ist es mit Wiederbegegnungen mit Werken, die vor langer Zeit geschrieben wurden?
Es gibt drei Kategorien. Die erste enthält Werke, die ganz tief in einer Schublade liegen und die ich nie mehr sehen will. Das hat manchmal nur den Grund, dass es acht, vier oder zwei Takte gibt, die einfach nicht gut sind und die einem beim Hören einen derart schlechten Eindruck gemacht haben, dass man sie nicht mehr hören will.
Die zweite Kategorie, das sind Werke, die man wieder entdecken und ändern will. Und dann gibt es diese dritte Kategorie, wo gar nichts daran zu meckern ist und mit denen man zufrieden lebt.

Nun genügt es ja nicht, das der Komponist zufrieden ist. Die Interpreten müssen es ja auch sein. Und gerade bei zeitgenössischer Musik werden doch manchmal Klagen laut, dass einzelne Werke nicht spielbar oder singbar sind. Andreas Scholl hat mir einmal gesagt, wenn jemand etwas für ihn schreibe, müsse er entweder ganz oben oder ganz, ganz unten singen,  also immer im Extrembereich und er gewinne so den Eindruck, man möchte ihn nur als Clown hin stellen…
Also, ich mache mir sehr viele Gedanken darüber, wie etwas klingt und wie es zum Klingen gebracht werden kann. Das kommt möglicherweise daher, dass ich in der Person Gerhard Wimbergs einen Lehrer hatte, der sich sehr oft mit mir darüber unterhielt und sehr viel Gewicht darauf legte, dass man praktikabel schreibt, und auch, dass man für jede Gelegenheit schreiben kann. Wenn ich für einen Schulchor schreiben soll, darf ich nicht einfach sagen: ‘Nein, da fällt mir nichts ein!’. Ich muss also auch für den Schulchor schreiben können, und zwar so, dass der das auch singen kann.
Oberstes Gebot ist daher: jedes Werk muss singbar oder spielbar sein. Schließlich soll ja bei den Musikern Freude aufkommen. Sie müssen sich weg bewegen können von den technischen Problemen und Musik machen, Musik, mit der sie sich identifizieren können und bei der Emotionen aufkommen.

Was schreiben Sie am liebsten, Kammermusik, symphonische Musik?
Kammermusik schreibe ich sehr gerne. Sie hat etwas ungemein Reizvolles und ist überschaubar. Man kann sehr auf Linie gehen, sehr auf Substanz achten. Kammermusik ist wohl auch das Schwerste.

Nun gibt es für Kammermusik ja wohl auch die meisten Aufführungsmöglichkeiten. Viele Komponisten haben auch gar nicht die Möglichkeit, für Orchester zu schreiben, zumindest nicht, wenn sie aufgeführt werden wollen. Sie hingegen schreiben recht viel für Orchester.
Ja, ich schreibe viel für Orchester, weil ich das Glück habe, dass man mich danach fragt und mir Aufträge gibt. Aber im Grunde genommen ist die Besetzung nicht so wichtig. Komponieren ist nicht nur Musik schreiben, es ist eine globale Aktivität, die sich auf politische sowie auf historische Überlegungen bezieht, es ist einfach ein gesamter Prozess. Ich sage das auch immer meinen Studenten. Wir reden über alles in der Klasse, und das ist ungemein wichtig. Die Leute sollen ihre Position artikulieren. Man ist nicht auf der einen Seite ein Avantgardist und auf der anderen Seite hängt man irgendwo einer gestrigen Partei an, das geht nicht. Der Komponist ist immer ein Ganzes, natürlich mit vielen Schattierungen und auch mit Gegensätzen, mit Ying und Yang. Wenn man jedoch seine Überzeugungen während Jahrzehnten  geschliffen und in Frage gestellt und überdacht hat, kommt letztendlich doch ein einheitliches Bild heraus.

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