Alan Gilbert und das New York Philharmonic sind vom 20. April bis zum 7. Mai auf einer zweiwöchigen Europatournee. Alain Steffen hat sich darüber mit Chefdirigent Alan Gilbert unterhalten.

Alan Gilbert
(c) Chris Lee

Alan Gilbert, Sie stehen kurz vor Ihrer 6. Europatournee mit dem ‘New York Philharmonic’. Wie wichtig sind gerade im Zeitalter der Medien, der sozialen Netzwerke, der CDs und DVDs solche großen und anstrengenden Tourneen?
Gerade wegen dieser Omnipräsenz der Medien sind die Tourneen für ein symphonisches Orchester enorm wichtig. Sie sollen zeigen, dass es sich immer noch lohnt, in ein Konzert zu gehen, denn das Live-Erlebnis kann niemals ein Ersatz für eine Live-Streaming oder eine Radioübertragung sein. Gerade im Live-Konzert kann man das Geheimnis der musikalischen Kraft am besten nachvollziehen. Darüber hinaus müssen wir als Künstler auch versuchen, gewisse alte Pfade zu verlassen und neue Aspekte in ein Tournee-Programm mit einzubauen, wie wir das auf dieser Tournee auch tun.

In anderen Worten, es werden neben den klassischen Konzerten auch andere Konzertformen miteinbezogen?
Ja, wie in London oder Shanghai, wo wir als Residenzorchester eingeladen sind und somit auch mehrere Facetten unserer Arbeit zeigen können. Wir bieten Jugend- und Education-Programme an oder arbeiten mit ‘Giants are small’, einer Produktionsfirma, die klassische Werke durch andere künstlerische Artefakte und Ideen auf eine neue Ebene führt. Das ist auch sehr wichtig für die Musiker, denn sie müssen sich verkleiden und aus ihrer steifen Rolle im Frack heraustreten. Überhaupt ist eines der vielen positiven Punkte einer Tournee: die Dynamik, die sich zwischen den Musikern einstellt. Alle sind zusammen und haben nur ein Ziel vor Augen: exzellente Konzerte zu spielen. Solche Herausforderungen stärken den Gruppengeist und sind gruppendynamisch sehr, sehr wichtig. Obwohl eine Tournee immer sehr anstrengend für jeden von uns ist, sind wir nachher immer sehr zufrieden.

Wie gehen Sie denn bei der Vorbereitung einer solchen Tournee praktisch vor?
Das allererste, das bei der Vorbereitung einer neuen Spielzeit diskutiert wird, sind die Programme der anstehenden Tourneen. Vorschläge werden unterbreitet, Konzepte ausgearbeitet, Kontakte aufgenommen. Wissen Sie, das ‘New York Philharmonic’ ist ein Orchester, das sich auch auf seinen Tourneen nicht ausschließlich mit den Evergreens der Klassik profilieren will. Es gibt Orchester, die auf ihren Tourneen nur die Schlachtrösser der Musikliteratur im Gepäckhaben, wie Beethovens 5. Symphonie oder sein Violinkonzert, Schuberts 8. und 9. Symphonie oder Dvoraks ‘Symphonie aus der neuen Welt’ resp. sein Cellokonzert. Wir versuchen dagegen, neue oder weniger populäre Werke mit einzubinden, kombinieren sie mit zeitgenössischen Stücken und ein bis zwei orchestralen Highlights. Ich denke, es ist sehr wichtig, ein gesundes Gleichgewicht herzustellen und das Publikum auch einmal zu fordern. Das Publikum ist zu größten Teil konservativ eingestellt, ob das jetzt in New York, London, Berlin oder in Luxemburg ist. Es will immer das gleiche hören. Und deshalb ist es uns so wichtig, auf unseren Tourneen immer zu den gleichen Partnern zurückzukommen und dort eine Beziehung zu den Menschen aufzubauen. Und so auch einmal Musik zu vermitteln, die nicht unbedingt beim ersten Hören gefällt.

New York Philharmonic-Alan Gilbert  (c) Chris Lee

New York Philharmonic-Alan Gilbert
(c) Chris Lee

Bei dieser Tournee haben Sie beispielsweise nur Werke von Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts ins Programm genommen.
Richtig! Wie ich schon sagte, es müssen nicht immer Beethoven, Mahler und Dvorak sein. Das 20. und 21. Jahrhundert haben tolle Musik zu bieten. Und wir spielen wirklich einige Klassiker, wie Igor Stravinskys ‘Petruschka’, Bela Bartoks ‘Der wunderbare Mandarin’, Richard Strauss‘ ‘Rosenkavalier’-Suite oder die 10. Symphonie von Dmitri Shostakovich. Aber auch eine Komposition wie ‘Nyx’ von Esa-Pekka Salonen ist ein tolles Werk. Hinzu kommt noch die Uraufführung von Peter Eötvös ‘Senza Sangue’ in Köln. ‘Petruchka’ spielen wir übrigens in der Originalfassung von 1911.

Phänomenale Werke brauchen ein phänomenales Orchester. Das ‘New York Philharmonic’ gehört nicht nur zu Amerikas ‘Big Five’, sondern ist zudem eines der besten Orchester der Welt. Wie würden Sie den Charakter dieses Orchesters beschreiben?
Was mir am ersten dazu einfällt und was ich auch besonders am ‘New York Philharmonic’ schätze, ist seine Flexibilität. Die Musiker können quasi auf Anhieb alles spielen, von Barock bis Moderne. Und es klingt immer richtig. Da gibt es keine spieltechnischen Grenzen, im Gegenteil. Wenn ich das Orchester dirigiere, habe ich immer den Eindruck, dass die Musiker noch Luft nach oben haben. Das ist für einen Dirigenten sehr wichtig; so kann er sich ganz und gar auf die Interpretation konzentrieren und braucht keine Rücksicht auf qualitative Einbußen zu nehmen. Wenn Sie nämlich ein Orchester dirigieren, was schnell an seine Grenzen kommt und wenn Sie immer aufpassen müssen, dass nichts aus dem Ruder läuft, wirkt sich dies natürlich negativ auf Interpretation und Dynamik aus. Natürlich können auch die New Yorker Fehler machen, wenn sie einen schlechten Tag haben, aber das Orchester balanciert alles schnell, und für den Zuhörer oft unmerklich, wieder aus. Wie wenn es eine Autokorrekturtaste hätte. Ich bin ja quasi mit diesem Orchester aufgewachsen und liebe seinen Klang, seine unendliche Farbenpalette, seine Kraft und seine Präzision.

Auf der kommenden Europatournee spielen Sie, wie erwähnt, die 10. Symphonie von Dmitri Shostakovich. In diesem Werk gibt es dieses kurze Allegro, das ja ein bitter-ironisches Portrait von Josef Stalin ist. Durch die rezenten Attentate auf die französische Zeitung Charlie Hebdo rückt die Frage nach der Beziehung zwischen Kunst und Politik, resp. Religion wieder stärker in den Vordergrund.
Das was in Paris passiert ist, ist eine schreckliche Sache. Aber ich denke, die Kunst hat immer die Aufgabe gehabt, soziale und politische Ungerechtigkeiten anzuprangern. Daran wird sich auch durch die Charlie Hebdo-Attentate nichts ändern. Shostakovich selbst hat keine politische Musik geschrieben, er hat die Politik nur auf seine eigene Art kommentiert, und dass oft auf eine sehr ironische Weise. Aber nicht nur, denn seine Werke haben auf der anderen Seite eine kaum zu ertragende Tiefe und Ehrlichkeit. Für mich ist gerade die Zehnte ein wichtiges Zeugnis von Zivilcourage, ein Mahnmal für die Menschlichkeit und für die Gerechtigkeit, entstanden, in einer Zeit und während eines Regimes, wo Krieg, Angst und Paranoia die Menschen verunsicherten, ja bis an ihre Grenzen brachten. Und gerade heute spürt man dieses allgemeine Misstrauen, die paranoide Angst allem Fremden gegenüber wieder sehr stark. In dem Sinne ist gerade eine Symphonie wie die Zehnte von Dmitri Shostakovich sehr aktuell.

Braucht ein Werk wie diese Zehnte einen spezifischen Klang?
Wenn eine Interpretation ein festes und überzeugendes Konzept hat, dann stimmt auch meistens der Klang. Man kann Shostakovichs Werke natürlich auch als Klangspektakel aufführen, aber dann dirigiert und spielt man am Wesentlichen vorbei. Das gilt natürlich für jedes Werk und für jeden Komponisten. Unsere Aufgabe als Interpreten ist es ja, genau das in Klang umzusetzen, was der Komponist beabsichtigt hat. Wenn Shostakovich ironisiert, muss das auch hörbar sein. Wenn er bis an die Grenzen des emotional Erträglichen geht, müssen wir dem Publikum das auch vermitteln können. Somit ist jede Note, jede Phrase wichtig. Und wenn man das berücksichtigt, dann erhält man auch den gewünschten Klang. Und das bringt uns wieder zum Orchesterpotential. Ein gutes Symphonieorchester kann jeden Klang, den sich ein Dirigent wünscht, ohne Mühe hervorzaubern. Ein mittelmäßiges leider nicht.

Sie haben vorhin die Flexibilität des ‘New York Philharmonic’ angesprochen. Eine Bezeichnung, die man gerne auch für andere amerikanische Orchester anführt. Sind amerikanische Orchester wirklich flexibler als europäische?
Hier darf man nicht verallgemeinern, denn jedes Orchester ist verschieden. Ich will es so ausdrücken: Amerikanische Orchester haben eine ganz andere Art zu arbeiten als europäische. In Amerika haben wir viel weniger Proben, die Musiker müssen also viel schneller lernen und zwischen den Genres hin- und her switchen können als in Europa, wo man sich viel mehr Zeit lässt. Und diese Flexibilität – da haben wir sie wieder – ist enorm wichtig, gerade wenn ein Orchester mit einem Gastdirigenten arbeitet. Die Musiker des ‘New York Philharmonic’ sind so gut, dass bereits die erste Probe oft das Niveau eines Konzerts hat. Der Dirigent braucht sich dann wirklich nur noch um seine Interpretation zu kümmern.

In Amerika spielt das Sponsoring ja eine sehr wichtige Rolle. Ein langjähriger Partner für die Tourneen des ‘New York Philharmonic’ ist eine Schweizer Bank. Wie stark ist denn die Macht der Sponsoren überhaupt?
Das hängt davon ab. Es gibt sicherlich Sponsoren, die einem Orchester in das Programm hineinreden. In New York haben wir diese Probleme glücklicherweise nicht. Ich kann auf das Programm setzen, was ich will. In dem Sinne sind unsere Sponsoren wirkliche Partner. Und ohne die wäre eine so kostspielige Europatournee überhaupt nicht möglich. Aber auch in Europa wird sich die Finanzierung wohl nach und nach verändern. Viele Subventionen bleiben aus oder werden weniger, so dass man sich nach anderen Finanzierungspartnern umsehen muss.

Also keine Gefahr, dass der Innovationsprozess, in dem sich die klassische Musik befindet, ausgebremst wird?
Nein, ich denke nicht. Man darf sich natürlich als Orchester auch nicht an den erstbesten verkaufen. Und Innovation muss sein. Allerdings darf man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, sondern diesen Prozess sehr behutsam vorantreiben.

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