Colin Davis

Ein Interview von Alain Steffen (2009)

Sir Colin, am Anfang Ihrer Karriere stand die Klarinette, nicht das Dirigentenpult. Was hat den Ausschlag gegeben, dann doch Dirigent zu werden?
Ich kann das auch heute noch nicht erklären. Es war eine völlig irrationale Entscheidung. Aber irgendwie war der Wunsch, Dirigenten zu werden, schon sehr früh da, mit dreizehn oder vierzehn Jahren. Es war ganz sicher eine Herzenssache. Dirigent sein bedeutet, sich mit Leidenschaft der Musik hingeben, neugierig sein, lernen, die Musik in ihrer Gesamtheit begreifen. Nicht nur eine Stimme spielen, sondern dieses ganze gewaltige Gebilde aus Emotionen und Klängen in sich aufnehmen und mit dem Orchester zusammen formen. Die Technik ist eigentlich zweitrangig, das kann man schnell lernen. Aber der Rest ist wie Zauberei. Dirigieren ist für mich das Allerhöchste und auch heute noch nach so vielen Jahren jedes Mal eine unbeschreibliche Erfahrung. Ich habe zwar ein breites Repertoire dirigiert, aber ich war nie am Mainstream-Musizieren interessiert. Vielmehr hat mich das Nischenrepertoire angesprochen, beispielsweise die Werke von Berlioz oder Sibelius. Das hat mich interessiert und da hatte ich auch was dazu zu sagen. Musik einfach nur zu reproduzieren, das ist doch langweilig und ganz sicher nicht meine Sache.

Sie sind ein Dirigent, der immer sehr lange bei einem Orchester geblieben ist. Mit der Staatskapelle Dresden z.B. verbindet Sie eine Zusammenarbeit von dreißig Jahren, beim Boston Symphony Orchestra waren Sie vierzehn, in Covent Garden fünfzehn Jahre. Braucht man als Musiker diese Zeit, um zusammenzuwachsen?
Ich glaube schon! Aber das ist meine persönliche Auffassung. Andere Dirigenten sehen das anders. Aber man muss irgendwo sitzen und arbeiten. Und lernen! Und für mich ist es viel einfacher, dies dort zu tun, wo ich gerne bin. Und ich habe als Künstler und Mensch viel von diesen Orchestern und ihren Musikern gelernt. Jedes Orchester hat ja seine Geschichte, hat von anderen großen Dirigenten gelernt. Und dieses Erlernte geben sie auch an mich weiter. Dirigieren ist nicht nur eine einseitige Beziehung, es ist eine Beziehung, wo Geben und Nehmen sich die Waage halten.

Welche Erwartungen haben Sie an ein Orchester?
Erwartungen sind besser als Forderungen. Als Dirigent erwartet man sich natürlich von einem Orchester, dass es alles gibt und sich immer hundertprozentig in die Musik investiert. Als Künstler erwarte oder wünsche ich mir, mit seiner Tradition,seiner Spielkultur, seinem Wissen konfrontiert zu werden. Eine gewisse Neugierde, eine Offenheit für das Neue, für das Unerwartete ist aber auch sehr wichtig. Für mich als Künstler ist es einfach schön, von einem Orchester so viele wunderbare Sachen zu akzeptieren, die ich wiederum benutzen und in ein gemeinsames Musizieren einbringen kann. Dirigent und Orchester sollen sich auf jeden Fall gegenseitig formen.

Sie stehen jetzt seit einem halben Jahrhundert auf allen Dirigentenpodien dieser Welt. Was hat sich in diesen Jahren wesentlich im klassischen Musikbetrieb verändert?
Die Musik bleibt! Das ist wohl die wichtigste Erfahrung, die ich in all diesen Jahren gemacht habe. Am Anfang, also in den frühen Sechzigerjahren, haben die Schallplattenfirmen unheimlich viel für die klassische Musik getan. Und dann haben sie alles weggeworfen. Letztendlich, besonders in den letzten Jahren der Blüte, ging es nur noch ums Geld. Die wirklichen Kenner unter den Produzenten wurden durch geschäftstüchtige Manager ersetzt. Die Musik und wir Künstler waren denen völlig egal. Schauen Sie, von uns redet doch fast niemand mehr, weder im Fernsehen, noch im Radio, noch in den Zeitungen. Klassische Musik ist etwas für Insider geworden. Und dennoch sind die Konzertsäle und die Opernhäuser voll. Die Menschen strömen zu den Konzerten, heute genau so stark wie früher. Aber die Orchester müssen viel mehr reisen, um sich bekannt zu machen oder bekannt zu bleiben. Früher haben das die Schallplatten getan, jetzt ist es umgekehrt, heute werben viele Konzerte und Tourneen für die neuesten CD-Produktionen des Orchesters.
Auf der anderen Seite hat dieser Zusammenbruch auch seine guten Seiten. Wir müssen uns nicht mehr so stark dem Willen einer übermächtigen Schallplattenfirma beugen. Viele Orchester gründen ihre eigenen Labels und veröffentlichen Live-Mitschnitte ihrer Konzerte. Das London Symphony Orchestra hat mit seinen eigenen Veröffentlichungen einen großen Erfolg, vielleicht gerade deshalb, weil es Live-Mitschnitte voller Spannung und Emotionalität sind.

Gibt es in Ihrer langen Karriere Konzert- und Opernaufführungen, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?
Jede Aufführung hat ihren besonderen Reiz. Ich will mich da nicht festlegen. Aber wissen Sie, die Oper ist ein hervorragender Platz für Katastrophen. Was da nur schief gehen kann, das geht auch schief. Während einer Vorstellung gibt es so viele unberechenbare Faktoren, die mitspielen, dass es oft an ein Wunder grenzt, wenn man irgendwie unbeschadet am Schluss ankommt (lacht). Das kann man auch unmöglich kontrollieren. Opernaufführungen sind abhängig von der Tagesform der Sänger, vom Chor, vom Ballett, von der Regie, von der Kommunikation zwischen Bühne und Orchester u.s.w.. Ich sage immer, einmal in zehn Jahren kriegt man eine gute Aufführung. Im Konzert ist aber nicht so schlimm. Zwei, drei Tage intensive Arbeit, und wenn jeder gut drauf ist, dann stimmt das Resultat auch im Konzert. Wenn die Energie und die Leidenschaft vorhanden sind, dann hat man schon fast gewonnen.

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