Christian Gerhaher
Photo: Jim Rakete/Sony Classical

Ein Interview von Remy Franck

« Prisons are built with stones of Law, Brothels with bricks of Religion ». Dieser Satz von William Blake steht wie ein Motto auf Ihrer Webseite. Eigentlich ist es ein düsteres Motto. Warum gerade dieses Zitat?
Es lässt vielleicht mehr Wille und Planung vermuten, als dahinter steckt. Ich finde es sehr schön und provokant, dieses Zitat von William Blake, das ja auch von Britten vertont wurde. Eigentlich hat der Freund, der mir meine Webseite gemacht hat, das mit eingebaut und ich habe beschlossen, es so zu belassen. Ich liebe diesen Satz! Er ist zwar ein wenig verwirrend, aber ich finde das ganz gut, weil das Lyrische überhaupt ganz oft verwirrend ist. Wer weiß schon, was ein Kunstlied tatsächlich bedeutet? In der Oper weiß man das oft viel genauer!

Sie haben zunächst Geige gelernt, dann Gesang, wollten aber auch Mediziner werden. Wie geht das alles zusammen?
Eigentlich ganz einfach! Die Geige habe ich ganz schlecht gelernt, da hätte nichts draus werden können, und wenn die Musik mich immer maximal fasziniert hat, war es damals keine berufliche Alternative, so, dass ich nach einem Beruf suchte. Als Jugendlicher lag ich einmal längere Zeit mit einer chronischen Erkrankung im Krankenhaus, Medizin hat mich auch fasziniert und die wollte ich dann auch irgendwann studieren.

Nun sind ja aber beide Studienwege auch sehr anfordernd und zeitraubend, so, dass man meinen könnte, das eine sei mit dem anderen gar nicht mehr zu vereinbaren?
Das war auch tatsächlich so, denn ich durfte auf der Musikhochschule in München kein Doppelstudium machen. Ich habe dann halt offiziell mein Medizinstudium gemacht und meine Stimme nebenbei privat ausgebildet, aber ich vermisse heute ein reguläres Musikstudium.

Was fehlt denn, was möchten Sie mehr haben als das, was Sie wissen?
Ich möchte eigentlich gerne manche Entwicklungen in meinem Geschmack, in meinen Ansichten, was die Musik anbelangt, besser intellektuell begründen können. Ich habe eine Ahnung, dass eine fundierte Ausbildung in Formenlehre, Tonsatz und Harmonielehre einen dazu bringen kann, manche Ansichten für sich besser zu begründen, ohne, dass sie apodiktisch sein müssen. Ich glaube, es würde mir helfen, aber man kann nun eben schwer im Leben alles nachholen, zumal wenn man schon mitten im Leben steht und dazu noch Familie hat. Ein Studium kann man schwer nachholen. Ich unterrichtete sehr viel, ein wenig sogar an der Hochschule, die mich kein Doppelstudium machen ließ, was ich als großen Witz empfinde. Ich plädiere immer dafür, dass die Studenten ihr Studium auch wirklich zum Studium nutzen und sich nicht sich breit schlagen lassen, das Studium als Praktikum zu begreifen. Ein Studium ist und bleibt etwas wahnsinnig Wertvolles.

Wann haben Sie Ihre Liebe zum Gesang und der Stimme entdeckt?
Da ich ja schlecht Geige gespielt habe, habe ich irgendwann angefangen, im Chor meines Geigenlehrers zu singen, nicht zuletzt, weil mein bester Freund mir gesagt hatte, es gäbe da auch so wahnsinnig hübsche Mädchen. Das war auch tatsächlich so und ich war auch fasziniert, habe aber vor allem gleich gemerkt, dass Stimme etwas ist, was mir liegt, und ein sinnliches Empfinden mit sich bringt, das mich befriedigt.

Haben Sie als Kind viel gesungen?
Nein, überhaupt nicht! Ich habe Singen nie gemocht. Wenn meine Mutter sich Bachkantaten oder Kunstlieder anhörte, habe ich immer die Kurve gekratzt, ich fand das ganz schrecklich! Unsere Eltern sind auch nie mit uns in die Oper gegangen, sondern immer nur in Konzerte. Mich haben Konzerte immer viel mehr fasziniert, und das hat sich bis heute nicht geändert. Das Konzert ist das Zentrum meines Tuns und wird es auch bleiben.

Sie haben Ihr Medizinstudium mit einem Doktorat abgeschlossen. Hatte dieses etwas mit der Stimme zu tun?
Nein, meine Doktorarbeit behandelte die Handgelenksspiegelung! Eigentlich wollte ich über Atemmuskulatur bei Sängern und Nichtsängern promovieren, aber mir wurde relativ schnell klar, dass es dazu überhaupt noch nichts gab, so, dass ich einen Haufen an Einzeldaten bekommen hätte, die ich wahrscheinlich nie oder zumindest sehr schwer hätte interpretieren können, also ließ ich es sein und wählte ein anderes Thema.

Sie sagen, Sie seien vorrangig ein Konzert- und Liedsänger. Was bedeutet Ihnen der Liedgesang?
Das Lied ist etwas, was immer unfassbar bleibt. Allein schon das Prinzip der Kombination eines vorgefertigten, kompletten Kunstwerkes, also eines Gedichtes, mit der zeitlich nachrangigen Vertonung ist etwas, was die Sache sehr kompliziert macht. Wagner hat die Libretti zu seinen Opern selbst geschrieben, Strauss und Mozart waren unmittelbar an der Entstehung ihrer Opernlibretti beteiligt: Die der Vertonung zugrunde liegenden Texte wurden für die Vertonung entwickelt. Das ist bei einem Gedicht natürlich überhaupt nicht der Fall. Als Schubert Goethe einige von ihm vertonte Gedichte zuschickte, hat der Dichter bekanntlich nicht darauf reagiert. Ich bin der Meinung, Goethe hat gemerkt, dass Schuberts Vertonungen seinen Gedichten ziemlich viel an Eigenständigkeit und im Grunde Bedeutung raubten, und so ist es ja auch. Ein Gedicht, das vorgefertigt ist, also eine abgeschlossene künstlerische Leistung, wird durch eine Vertonung ja eigentlich vergewaltigt und in diesem Zusammenhang seiner Identität beraubt. Der ursprüngliche Text ist kein Gedicht mehr, sondern Teil eines Liedes und kann sogar eine ganz andere Aussage haben als der bloße Text. Nehmen wir als Beispiel die ‘Schöne Müllerin’ von Schubert. Der den Liedern zugrunde liegende Gedichtezyklus Wilhelm Müllers umfasst 25 Gedichte, mit Prolog und Epilog. Dass diese beiden zynisch-ironischen Teile nicht vertont wurden, kann man ja noch verstehen, das würde vielleicht nicht so sehr zu Schubert passen. Aber die drei Gedichte, die er innerhalb des Zyklus’ ausgelassen hat, die wären eigentlich dramaturgisch sehr sinnvoll, das würde diesen Gedichtzyklus anders und vor allem in Hinsicht auf die Entwicklung der interessanten Protagonisten vielleicht ein bisschen sinnvoller werden lassen. Es gibt also dramaturgisch große Unterschiede zwischen der ‘Müllerin’ von Schubert und der von Wilhelm Müller, und so sieht man, dass eine eindeutige Interpretation eines lyrischen Kunstwerkes wie eines Kunstliedes con grano salis nicht möglich ist. Und das fasziniert mich! Es freut  immer wieder, diese Unschärfe mal so oder so zu gewichten.

Nun gibt es ja auch viele Gedichte, die eigentlich ganz banal sind und erst durch die Musik wirklich zu einem Juwel geworden sind.
Ja, das gibt es manchmal, z.B. bei Schubert, etwa wenn er als  freundschaftliche Geste das eine oder andere Machwerk eines Freundes vertonte. Das ist vom Prinzip her etwas traurig, auf der anderen Seite ist es schon erstaunlich, was Schubert aus diesen ganz schrecklichen Gedichten gemacht hat. Bei Johannes Brahms ist die Auswahl schlechter Gedichte fast schon Prinzip, und das ist etwas, was mich zutiefst bedrückt. Deswegen sind seine Kunstlieder auch in der zweiten Reihe, sie können nicht mit Schubert, Schumann und Mahler konkurrieren und haben trotzdem etwas Bestechendes, etwas eher sinnlich oder absolut musikalisch Bestechendes. In der Relation Dichter-Komponist ist unbedingt Friedrich Rückert zu nennen. Für mich ist er kein schwacher Dichter, aber manche Leute finden ihn vielleicht nachrangig. Er hat irrsinnig viele Gedichte geschrieben, und irrsinnig viele seiner Gedichte wurden von irrsinnig vielen Komponisten vertont. Das geschah gewiss nicht ohne Grund. Nehmen wir von Schubert ‘Du bist die Ruh’, sicherlich eines der besten Lieder der ganzen Liedgeschichte: Das dem Lied zugrunde liegende Gedicht ist nichts Besonderes, aber in Schuberts Fantasie wird es grandios. Warum? Es ist ein Gedicht, das Struktur mitbringt! Friedrich Rückert war vielleicht der virtuoseste Beherrscher aller Gedichtsformen, ein Dichter, dem es mehr um Struktur und Dichtungstechnik ging als um Inhalte. Weil das Kunstlied im Gegensatz zur Symphonie oder zum Quartett relativ formschwach ist, bietet sich Rückerts formstarke Dichtung zur Vertonung regelrecht an. Und so entstanden dann Lieder wie ‘Du bist die Ruh’, ein fantastisches Kunstwerk, dem sich eigentlich keiner entziehen kann, weder intellektuell noch sinnlich.

…sofern er sich für das Kunstlied interessiert, und das tut doch nur ein kleiner Teil des Publikums.
So ist es halt! Man muss eine gewisse Abhärtung durchmachen, man muss ein Leben geführt haben, das einen dazu führt, auch Nichtigkeiten zu akzeptieren, und deswegen ist ja auch so ein kleiner silbergrauer Schimmer über dem Publikum des Kunstliedes etwas ganz Normales.

Sie sind u.a bei Elisabeth Schwarzkopf und Dietrich Fischer-Dieskau in die Lehre gegangen. Sind sie auch etwas wie Vorbilder für Sie?
Natürlich ist  Fischer-Dieskau ein Vorbild, denn keiner hat das Lied wirklich so als Kunstform geprägt wie er. Ihm ist es zu verdanken, dass das Lied eine Art vokale Kammermusik wurde.

Aber Sie sind in der Interpretation doch völlig anders als er, Sie erleben die Musik doch ganz anders, intensiver, dramatischer…
…aber nicht im Sinne eines Geschichtenerzählens, einer Handlungsabfolge. Dieses Diktum, dass Lieder Kleinstopern sind, finde ich absolut abscheulich. Lieder sind Lieder und damit relativ abstrakte Kommunikationsformen. Ich sage absichtlich abstrakt, sogar bei Schumann oder Schubert. Das Lied ist abstrakte Kunst, es entzieht sich der Begreifbarkeit. Es ist ja nicht alles von Rückert oder Johann Gabriel Seidel und meistens gibt es in einem so kurzen Stück, das im Durchschnitt 3 Minuten dauert, so viel Text, der zum Teil sehr kompliziert ist, mit Musik, die ganz oft ebenfalls kompliziert ist, dass man wesentlich länger braucht, um das Ganze  zu verstehen als 3 Minuten. Das kann nicht so aufgenommen werden, dass man sagt: Ich kapiere das ganzheitlich! Und insofern plädiere ich dafür, dass man sich als Zuhörer weniger auf den zugrundeliegenden Text konzentriert, sondern vielmehr auf den Klang als Synthese des zugrundeliegenden Textes und versucht, diesen Klang so zu rezipieren wie absolute Musik, wie eine Instrumentalmusik!

Sie haben mit Gerold Huber seit Jahren einen festen Partner an Ihrer musikalischen Seite. Was bedeutet diese Partnerschaft, warum beschränken Sie sich auf einen Pianisten und was stärkt Ihre Bindung?
Diese Tatsache ist für mich zentral in meinem Dasein als Sänger und ich glaube, ich wäre nicht das geworden, hätte ich ihn nicht an meiner Seite und er vielleicht auch nicht, wenn er mich nicht hätte. Es ist wie eine Ehe! Meine Frau und seine Frau sagen manchmal: Wir wissen nicht ob ihr verheiratet seid oder wir. Also echt, er ist für mich wie ein Bruder und schon aus menschlichen Gründen möchte ich ihn niemals verlieren. Ich kriege natürlich mit, dass manche Sänger sagen: Für Debussy nehme ich den und für Schumann den, und dann nehme mich mal diesen oder jenen… Ich finde diese Haltung für mich persönlich unangenehm. Ich sehe es tatsächlich eher so wie eine Ehe. Hier wie dort mögen vielleicht manchmal außereheliche Reize aufkommen, aber man muss sich denen ja nicht ergeben. Für mich liegt eine wesentliche Kraft in der Kontinuität und in der Treue. Darin liegt ja auch ein großer Vorteil: Wir können an Lieder herangehen, ohne, dass wir uns vorher mit Worten austauschen müssen. Manchmal, bei neuem Repertoire, kann es sein, dass wir unterschiedlicher Meinung sind, darüber wird diskutiert und dann fließt das ein und wir finden den gemeinsamen Weg, aber ansonsten müssen wir nicht proben, um zusammen zu sein, wie brauchen uns nur auf die Materie zu konzentrieren. Bei Klavier und Gesang sind die Einschwingvorgänge dieser beiden Instrumente sehr unterschiedlich. Das Klavier ist immer auf dem Punkt und hat den maximalen Klang sofort erreicht. Bei der Stimme ist es eher so, dass sie auch manchmal anschwillt, insofern gibt es mal Überlappungen, die sowieso vom Zuhörer geduldet werden. Aus der Aufführungspraxis kann ich behaupten, dass wir praktisch wie mit einem elastischen Band miteinander verbunden sind. Und so spürt man schon, wenn einer vorgeht und dann ist man natürlich sofort wieder beieinander, ganz automatisch. Mit anderen Pianisten, ich mache das ja auch manchmal, muss man das schon proben und es führt auch nicht zu einem so befriedigenden Ergebnis.

Wie ist Ihr Verhältnis zur Oper?
Ein bisschen gespalten! Ich singe schon recht häufig den Wolfram im Tannhäuser, was ja nun wirklich ganz mein Fach ist. Weil meine Stimme schon ein wenig expandiert, werden mir auch Rollen angeboten, die mich zwar reizen, Amfortas oder Wozzeck, aber ich lasse mir damit noch Zeit, um das Liedsingen in keiner Weise zu gefährden. Etwas, was mir bis heute noch relativ fremd ist, ist das italienische Repertoire des 19. Jahrhunderts. Ich weiß schon, dass Verdi eine ganz feine Musik ist und achte das auch, aber ich habe zu dieser Musik keinen Zugang. Ich hoffe, dass sie sich mir irgendwann einmal erschließt. Aber es gibt da so viele tolle Sänger, dass man mich nicht unbedingt braucht. Rossini macht auch Spaß, aber Monate damit verbringen, nur um Spaß zu haben, klingt mir irgendwie nicht ganz plausibel. Ich muss noch so viele Lieder singen, die ich noch nicht gesungen habe, und dann sind ja auch noch meine drei Kinder, und das Familienleben ist mir halt doch schon ein bisschen wichtiger.

Haben Sie auch Angst vor Regisseuren, vor dem Regietheater?
Ich möchte das jetzt nicht unbedingt an diesem Begriff festmachen. Ich kenne Regisseure, die nun wirklich kein Regietheater machen, beispielsweise Robert Wilson, und deren Arbeit ich absolut degoutant, schlecht, sinn- und geistlos finde. Mit solchem Unsinn möchte ich in meinem Leben nichts zu tun haben, ich möchte mit sowas auf keinen Fall meine Zeit verschwenden. Natürlich gibt es auch einige Regisseure, die dem Regietheater vielleicht mehr angehören, und die auf der Bühne reine Schweinereien produzieren. Ich bin nun wirklich kein prüder Mensch und kein Moralapostel, aber mit solchen Schmutzfinken zusammen zu arbeiten, dazu habe ich wirklich keine Lust. Natürlich ist ein Werk, sobald es die Feder eines Schaffenden verlassen hat, frei. Das ist für mich ein grundlegendes Prinzip, und trotzdem muss ich sagen: Wenn man mit solcher Gewalt, wie es manche Regisseure tun, gegen den doch offensichtlichen Grundinhalt eines Werkes verstößt oder sich mit einem totalen Desinteresse dazu verhält, will ich das nicht akzeptieren. Wenn ich oder jeder andere Kammermusiker versuchen würde, sich der Kammermusik so zu nähern, sie so total zu verunstalten, würde man uns den Kopf abschlagen und das zu Recht! Gott sei Dank gibt es auch noch Regisseure wie Christof Loy oder Claus Guth, die ambitioniert genug sind, sich dem Regietheater zu verschreiben und dennoch gegenüber einem Werk größten Respekt zeigen. Ich glaube, man kann viel ausdrücken und das mit großer geistiger Elaboriertheit, ohne ein Werk zu verunstalten.

Wenn Sie auf der Bühne anfangen zu singen, glaubt man, Sie betreten eine andere Welt. Sie tauchen völlig ab in die Materie und singen aus dieser Materie heraus mit einer wirklich überwältigenden Intensität. Sind Sie dann auch selber total überwältigt?
Nein, bin ich nicht! Ich versuche stets, konzentriert zu sein, und deswegen bin ich tagsüber vor einem Konzert auch immer zurückhaltend, um meine geistigen und körperlichen Kräfte zu schonen. Auch beim Singen gibt es Zeit für Reflexionen und leider auch für Ängste und Zweifel. Die Situation des Auftritts ist nicht immer ganz leicht. Ich würde sagen: Ich tauche vor allem sinnlich in eine Welt ganz ein, aber geistig schweife ich doch schon mal ab, und habe meine Ängste, die mich dann begleiten.

Wovor haben Sie Angst?
Ich habe Angst davor, den Ton nicht zu treffen, was ja auch logisch erscheint, Angst davor, dass ich den Text vergesse, und wenn ich ein Gallier wäre, würde ich sagen, ich habe Angst davor, dass mir der Himmel auf den Kopf fällt.

Und was beglückt Sie auch in demselben Moment?
Wahnsinnig vieles, und zwar nicht nur als Ausführender, sondern auch als Zuhörender, denn ich bin ja als Ausführender auch Zuhörer! Faszinierend ist vor allem die Kombination von sinnlichem Erleben und geistig fassbaren Inhalten.

  • Pizzicato

  • Archives